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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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historischen Treffen der Alliierten an der Elbe kennengelernt und drei Tage und Nächte zusammen verbracht. Die hatten genügt. Harry war als Besatzungssoldat nach Hamburg geschickt worden, Jelena in das Kriegsgefangenenlager für deutsche Soldaten vor der winzigen Stadt Opalenica, welche südwestlich der großen Stadt Poznan (ehem. Posen) lag. Nur etwa fünfundzwanzigtausend Gefangene saßen in diesem Lager.
    Am 2. April 1945 hatte Schütze Jakob Formann sich aus der Schlacht um Berlin mit ein paar Kameraden zu den Russen ›hinübergerettet‹, wie er es nannte. Am 14. Mai war er in obenerwähntem Lager gelandet. Nun begann es sich herumzusprechen, daß alle kleineren Lager aufgelöst und ihre Insassen in große Lager weit hinten in die Sowjetunion geschafft werden sollten. Jakob wollte nicht nach weit hinten in die Sowjetunion. Er fand, daß es nun genug war. Und Jelena wollte nach Hamburg zu ihrem Harry. Obwohl doch der Major Jurij Blaschenko so gut zu ihr war. Auf die Dauer wollte Jelena, eine anständige Frau, ihren geliebten Harry nicht gleich mit zwei anderen Männern betrügen.
    »… das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen, blickst auf zu deines Sohnes Tod!« sprach Gretchen Formann voll tiefem Gefühl. Das Publikum – russische Offiziere, Jelena und Wachmannschaften – verstand kein Wort und war schon ganz schwach vor Lachen. Die lachen sich noch kaputt über den ›Faust‹, dachte Jakob. Klar. Die müssen das für ›Charleys Tante‹ halten. Wenn sie lachen, steigen ihnen allen Atemwolken aus den Mündern, ich kann es sehen. Wir haben Anfang November, und es ist immerhin schon saukalt.
    Gott, die brüllen ja vor Lachen! Nach jedem Satz, dachte Jakob, und zog die Perücke fest, die ins Rutschen geraten war. Aber es ist ja auch komisch. Wahnsinnig komisch. Wenn Goethe vielleicht auch nicht so begeistert gewesen wäre. Aber ich spiele dieses dämliche Gretchen ja auch nicht, um dieses dämliche Gretchen zu spielen und den deutschen Dichterfürsten zu ehren, sondern weil ich mit Jelena und rund hundertfünfzig Kumpeln heute nacht abhauen will. Das ist nicht mein Krieg! Ist es nie gewesen! Ich will endlich nach Hause. Darum spiele ich. Mir ist da nämlich vor drei Monaten eine Idee gekommen …
    »… zum Vater blickst du und Seufzer schickst du …«, deklamierte Jakob und dachte, weil er wegen des Aufbrüllens der Zuschauer wieder einmal pausieren mußte: Lacht nur, Genossen! Macht euch in die Hosen vor Lachen, Genossen! Ganz schlecht werden soll euch vor Gelächter! Leute, die lachen, können nicht schießen.
    Die Idee, die unserem Jakob vor drei Monaten gekommen war, hatte er damals in einem Birkenwäldchen, gerade als sie es, in einer sanften Kuhle liegend, wieder einmal hinter sich hatten, dem Sergeanten Jelena anvertraut: »Ich will hier raus, Jelena. Ich habe die Schnauze voll.«
    »Ich möchte auch gerne zu Harry«, flüsterte sie, an seiner Schulter. Es war noch sommerlich warm in dem Birkenwäldchen. Und sie waren beide nackt. »Was für eine Idee ist dir gekommen, Jakob?«
    »Wir werden Theater spielen«, sagte er.
    Sie sah ihn mit offenem Munde an.
    »Sieh mich nicht mit offenem Munde an, Liebste«, sagte Jakob. »Natürlich werden wir nicht nur Theater spielen.«
    »Was noch?«
    Er sagte ihr, was noch. Sie stieß einen Freudenschrei aus.
    Jakob hatte lange nachgedacht über seinen Plan.
    In Europa und Asien wurde zu jener Zeit noch immer viel gestorben, und auch in dem vergleichsweise kleinen Lager nahe der vergleichsweise sehr kleinen Stadt Opalenica war das Sterben reichlich im Schwange. Es starben nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches noch viele, viele Hunderttausende. Im Lager, so hatte Jakob festgestellt, waren jene, die starben, fast immer solche, die sich selbst aufgegeben hatten und einfach überhaupt nichts mehr taten, um zu überleben. Indessen:
Überleben
, das hatte sich Jakob Formann eisern vorgenommen, und er erkannte, daß die Voraussetzung dazu fortwährende Beschäftigung körperlicher wie geschäftlicher Art war. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln betrieb er regelmäßige, fast übertriebene Körperpflege. Er stand als erster auf (lange vor dem Herausschreien zum Zählappell), um seine Freiübungen und seinen Langlauf zu machen, hinter Stacheldraht. Er arbeitete willig und freiwillig, ja, er drängte sich zur Arbeit, wo andere versuchten, sich zu drücken, weil sie zu erschöpft waren, denn es gab sehr wenig zu essen – nicht viel weniger als für

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