Hurra, wir leben noch
die sowjetischen Sieger.
»Dich nehme ich natürlich mit«, sagte Jakob zu Jelena. »Ich will nach Wien, du kommst zu deinem Harry nach Hamburg. Du mußt halt einen kleinen Umweg machen.«
»Was für einen kleinen Umweg?«
»Über Wien.«
»Du bist verrückt!«
»Hoffentlich verrückt genug«, sagte er und klopfte gegen einen Baum.
In den folgenden Wochen und Monaten ging er methodisch vor. Geschickt erbrachte er Beweise seiner Russisch-Kenntnisse, so oft ein Sowjetmensch in der Nähe war – mit der Folge, daß er zum Lagersprecher ernannt wurde. Als solcher avancierte Jakob zum Leiter der Lagerbibliothek.
Hier machte er (absolut verständnis- und interesselos natürlich) Bekanntschaft mit sowjetischen, aber auch mit deutschen Klassikern, über deren Werken er einst in der Schule sanft geschlummert hatte. Vom Bibliothekar wechselte er dann auf Wunsch des guten Lagerkommandanten Blaschenko, der ein weicher, schwerblütiger Mensch war, hinüber in die Schreibstube, und schließlich wurde er aufgefordert, Kulturabende zu veranstalten.
Nachdem er dem guten Lagerkommandanten Major Blaschenko gewisse Sonderzuteilungen an Grundnahrungsmitteln abgerungen hatte, übergab Jakob einem Kameraden, der vor dem Krieg im Stadttheater von Teplitz-Schönau den Jugendlichen Helden gespielt hatte, den Befehl des Lagerkommandanten, Goethes ›Faust, Erster Teil‹ zu inszenieren, wobei er ihm einschärfte, so viele Gefangene wie möglich als Arbeiter für eine noch zu errichtende Bühne, als Darsteller und als Komparsen zu beschäftigen. Es fand sich ein Düsseldorfer für die Marthe Schwerdtlein, das Gretchen behielt Jakob sich vor …
»… zum Vater blickst du«, betete er nun, am Abend des 5. November 1945, während die Strohperücke wiederum verrutschte, mit dröhnender Stimme, »und Seufzer schickst du hinauf um sein und deine Not …«
Manche Russen rangen vor Lachen nach Atem.
»Wer fühlet«, steigerte Jakob sich immer mehr, »wie wühlet der Schmerz mir im Gebein …«
Der ehemalige Jugendliche Held vom Stadttheater zu Teplitz-Schönau und nunmehrige Regisseur wurde vor Wut tobsüchtig. Die Vorstellung aber war ein ungeheurer Erfolg!
Da es schon so kalt geworden war, hatten die Gefangenen wenigstens alte Decken erhalten. Nun erhielten sie alle eine, wenn auch sehr kleine Portion Wodka. Und der gute Lagerkommandant Major Jurij Blaschenko veranstaltete eine Feier in der Wachbaracke. Ehrengast war Jakob Formann. Zwischen ihm und Blaschenko saß Jelena. Hier gab es dann mehr Wodka. Hier gab es viel mehr Wodka. Hier gab es unglaublich viel Wodka.
98
»Auf das herrliche Lustspiel ›Faust‹ und auf den genialen deutschen Dichter Wolfgang Schiller, der es geschrieben hat!« rief, lichterloh begeistert, der sonst so stille Major Blaschenko.
»Auf den werten Genossen Major Blaschenko!« rief Jakob.
»Auf Wolfgang Schiller, den deutschen Lieblingsschriftsteller des genialen Genossen Stalin!« konterte Blaschenko.
Wer da seinen Wodka nicht hinunterkippte, spielte mit seinem Leben.
Also kippte jedermann schnellstens.
»Der weise Genosse Stalin hat gesagt: ›Die Hitler kommen und gehen. Aber das deutsche Volk bleibt bestehen‹«, revanchierte sich Jakob.
Da capo!
Solche Saufereien um Leben und Tod sollten Jakob in späterer Zeit noch häufig widerfahren. Dies war die erste. Er hatte, klug und vorsichtig (in Jakobs Vokabular zwei Wörter für den gleichen Begriff) einen Viertelliter Sonnenblumenöl getrunken, bevor die Feier begann, und Jelena dringendst geraten, ein Gleiches zu tun. Auf diese Weise ertrugen die beiden das Stunden währende Fest und unzählige weitere Toasts, indessen die Gastgeber selig entschlummerten, einer nach dem anderen. Als letzter rutschte der gute Major Blaschenko unter den Tisch. Schon ein toller Kerl, dachte Jakob, hab’ ihn wirklich liebgewonnen. Allein was sein muß, muß sein.
Zusammen mit Jelena schleppte er den schnarchenden Major in dessen Baracke. Dort zogen sie ihm die Uniform und die Stiefel aus. Jakob legte seine verdreckte Uniform der Deutschen Wehrmacht sel. ab. Dann zog er die Uniform des Majors Blaschenko und dessen Stiefel an. In der Uniformjacke befanden sich, wie es die Dienstvorschrift befahl, alle militärischen Personalpapiere des Lagerkommandanten.
Eine Viertelstunde später chauffierte Jelena den Jeep des Kommandanten zum Lagertor, wo zwei – mächtig angetrunkene – Wachen mit Maschinenpistolen standen. Jelena überreichte den Herren einen Fahrbefehl
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