Hurra, wir leben noch
für den neben ihr sitzenden Major und einen für sich, beide ausgestellt nach Wien. Der Major rauchte gelangweilt eine überlange Papirossa. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen. Er schnauzte ein paar russische Brocken. Die besoffenen Wachen salutierten. Der Schlagbaum ging hoch. Jelena trat den Gashebel hinunter. Der Jeep schoß auf einen vereisten Feldweg hinaus.
Anläßlich seiner Tätigkeit in der Schreibstube hatte Jakob reichlich Muße und Gelegenheit gehabt, alle erforderlichen Dokumente für Jelena und sich auszufüllen, zu stempeln und mit dem Namen des Majors Blaschenko zu unterschreiben. In Voraussicht auf das Ende der Reise lagen in der Ledertasche neben ihm nun auch absolut echte Entlassungs-, Heimkehrererlaubnis- und andere Papiere auf den Namen Jakob Formann, Schütze. Er hatte Muße und Gelegenheit genug gehabt, um für etwas mehr als hundertfünfzig Kameraden alle diese Papiere in den vergangenen Wochen auszustellen. Manche Kameraden waren aus Österreich, die meisten aus Deutschland. Zu der Zeit, da die beiden besoffenen Wachen am Haupttor des Lagers die Insassen des Jeeps kontrollierten, kletterten die hundertfünfzig Gefangenen der Deutschen Wehrmacht unseligen Angedenkens über die Drahtumzäunung des Lagers und machten sich teils in Gruppen, teils allein, nach allen Himmelsrichtungen hin auf den Heimweg. Jelena hatte zum Glück alle ihre alten Papiere aufbewahrt, die sie als Deutsche auswiesen, zuletzt wohnhaft in der Hansestadt Hamburg, daselbst im Hause Adolfstraße 81.
»Vorwärts, Sergeant«, sagte er nun, in tiefer Nacht. »Ein bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf!«
»Jawohl, Genosse Major«, erwiderte Jelena.
Sie sprachen deutsch miteinander.
99
Ihre Reise währte sieben Tage, und siehe, es war eine sentimentale Reise. Sie fuhren nämlich nur durch polnisches und tschechisches Gebiet, also solches, das die Russen freigekämpft hatten. Infolgedessen wurden sie immer wieder umarmt, geküßt und mit Einladungen aufgehalten. Wo es nur ging, fuhren sie abseits der größeren Städte über Nebenstraßen. Es gab viele Kontrollen durch sowjetische Militärpolizei. Alle verliefen ohne Ärger. Die Rotarmisten sahen die (sowjetischen) Papiere an, grüßten und wünschten gute Weiterreise. Mit einem feinen Lächeln salutierte dann jedesmal Jakob, und oft hatte er ein lobendes Wort für die tapferen Genossen der glorreichen Roten Armee bereit. Sein Sergeant saß in solchen Fällen ernst am Steuer. Sie fuhren am liebsten nachts und schliefen am Tag, oder sie fuhren abwechselnd. So ging natürlich Zeit verloren. Aber sie kamen voran. Ihr Weg führte sie immer weiter südwärts. In den großen Städten, denen sie nicht ausweichen konnten, wurden sie von glücklichen, befreiten Bürgern gefeiert. Hausfrauen holten letzte Reserven aus den Verstecken und bereiteten köstliche Mahlzeiten. In Pardubice verdarb sich Jakob, an vieles Essen nicht mehr gewöhnt, zum erstenmal den Magen. Er sollte ihn sich noch einige Male verderben, so in Chrudim und Brno (früher Brünn).
In Pohorelice, einem Nest nahe der österreichischen Grenze, blieb Jakob und Jelena nichts anderes übrig, als im Beisein aller Dorfbewohner eine Dankes- und Liebeserklärung des Bürgermeisters über sich ergehen zu lassen. (Gottlob lagen in Pohorelice keine Rotarmisten.) Jakob ertrug des Bürgermeisters Worte mit Fassung, jedoch unruhig und sagte mit wenigen Worten (viele hatte er nicht), er müsse trotz aller Freude über einen solchen Empfang sofort weiter. Der Dienst …
Jelena und Jakob wurden zu ihrem Jeep begleitet. Diesen hatten die dankbaren Bewohner von Pohorelice mit Lebensmitteln aller Art derartig gefüllt, daß Jakob sorgenvoll darüber nachdachte, wie stark wohl die Radachsen eines Jeeps waren.
»Fahren Sie, Sergeant«, sagte Jakob zu Jelena, auf russisch. »Die Zeit drängt!«
Jelena fuhr los. Die Menschen wichen nur zögernd zurück. Jakob stand aufrecht im Jeep, eine Hand zur Faust geballt. Die Zurückbleibenden sangen die tschechische Nationalhymne. Eine halbe Stunde später sagte Jakob, nun wieder deutsch, zu Jelena: »Die Zeit drängt wirklich. Noch eine sowjetische Kontrolle riskiere ich nicht. Die Nachrichtenverbindungen sind zwar sehr schlecht, und der arme Jurij wird sich zuerst auch sehr geschämt und Angst gehabt haben, als er aufgewacht ist, aber irgendwann hat er doch verlauten lassen müssen, daß ihm hundertfünfzig Gefangene und sein eigener Fahrer abgehauen sind.«
In Mukulow, einem Ort
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