Hurra, wir leben noch
Kopfweh vom Blanc de blanc, und sie hatte das Gefühl, daß sie in dieser Nacht noch vonnöten sein werde. Was sie dann auch war. Zuletzt – nach der dritten Chinesischen Schlittenfahrt – hatte sie Kopfweh, ohne Blanc de blanc getrunken zu haben. Aber es war ein angenehmes, sanft drückendes Kopfweh, kein böse stechendes.
Emile rannte in seinen Metzgerladen und holte Schmalz und Grieben. Graubrot gab es nicht, nur die langen weißen Stangenbrote, die ›Flutes‹. Aber dann trieben sie in der Nachbarschaft sogar noch Graubrot für Jakob auf, bei dem Vertreter eines Begräbnisinstituts. Der milde Herr versprach gleichfalls, in jedem Bedarfsfall zu liefern. Emile schmierte Jakob die Brote persönlich, dick und mit viel Grieben und Salz drauf. Alle sahen gebannt zu. Von Zeit zu Zeit gab Jakob dem Wirt einen Wink. Dann war wieder eine Lokalrunde fällig. Alle betrachteten Jakob wie ein Wesen von einem anderen Stern, als er begann, das erste Schmalzbrot zu essen. Er bekam dabei einen ganz entrückten Gesichtsausdruck und mußte die Augen schließen vor so viel Glückseligkeit …
Eine Poule mußte weinen vor Rührung.
Zuletzt hatte Jakob sechs Schmalzbrote gegessen, und alle waren besoffen, der Wirt, der Metzger, der Begräbnisinstitutsvertreter inbegriffen. Claudine hatte ein Zimmer im Hause. Da wachte Jakob dann am nächsten Morgen auf – gegen neun Uhr. Claudine lag nackt neben ihm. Jakob wurde sofort sehr munter. Also dauerte es noch eine weitere Stunde, bis Claudine das Frühstück brachte. Jakob küßte ihr die Hand, als er das Tablett sah – es lagen drei Schmalzbrote neben der Boule mit dem Café au lait. Claudine sagte, sie liebe Jakob (sie sagte ›Jacques‹), und das verstand er sogar. »Ich aussi«, sagte er. »Komme immer wieder zu toi. Toujours.«
Claudine schmiegte sich an ihn.
»Merde alors«, sprach Claudine (sie arbeitete schon längere Zeit hier, und die nicht eben feine Art des fetten Wirtes Louis hatte auf sie abgefärbt).
»Pourquoi toujours maken Krieg français et deutsch? Warum nicht sein des amis? Nous sommes alle des frères et des sœurs devant le Bon Dieu.«
»Da hast du recht«, sagte Jakob. »Vor Gott sind wir alle Brüder und Schwestern. Aber die Industriebosse und die Scheißgeneräle, weißt du … lieber nicht davon reden … Komm noch einmal, meine kleine Schwester …«
Die kleine Schwester kam noch einmal.
Beim nächsten Besuch war Jakob dann schon wie das Kind im Haus. Die beiden alten Juden entschuldigten sich dafür, daß sie aus Angst weggelaufen waren, und deuteten zart an, sie würden auch sehr gerne einmal Schmalzbrote essen. Aber natürlich nur koscher, nur mit Gänseschmalz.
»Das ist aber ein Pech«, sagte Jakob.
»Was ist ein Pech?«
»Dem Emile sind die Gänse ausgegangen.«
»Ach …«
»Gestern hat er noch welche gehabt, sagt Louis.«
»Gerechter Gott«, sagte der erste Jude erschüttert. Und erkundigte sich, um Fassung ringend: »Waren sie wenigstens richtig fett?«
In anderen Städten, anderen Erdteilen, die er mit der Edlen besuchte, hatte Jakob sich das ähnlich eingerichtet. Hier in Paris ging er abends nach dem feierlichen Mahl, im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS häufig in den ›Gelben Hund‹ essen. Richtig essen. Die Edle und ihre Nichte, die Contessa, hatten einander immer so viel zu erzählen, zum Glück. Also sagte Jakob, er sei todmüde, und zog sich zurück in sein Schlafgemach. Dort dann aber nichts wie raus aus dem Smoking und rein in seine älteste Kluft! (Die allerdings in Belleville immer noch sehr bewundert wurde.) Er fuhr mit dem Lift bis in die Hotelgarage hinunter und verschwand durch einen Seitenausgang. Ein Taxi brachte ihn quer durch die Stadt. Nachts waren die Straßen leer. In der Nacht des 28. Oktober 1956 war Jakob Formann wieder einmal im JAUNE CHIEN . Er kam um 22 Uhr 30 an. Die Versammelten begrüßten ihn lärmend, mit Schulter- und Handschlag. Sofort schmiß Jakob wieder Runden. Claudine servierte ihm liebevoll seine Schmalzbrote und zum Trinken ›Perrier‹. Jakob war müde und doch hellwach. Es wurde ein Abend des Insich-Gehens. Die Erinnerung überkam ihn an manches, das geschehen war in diesen letzten Jahren. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Und die Schallplatten, die der Wirt auflegte, halfen ihm, in Erinnerung zu versinken, mehr und mehr, während seine Kiefer mahlten.
Musik. Eine Stimme. Eine berühmte Stimme. Sie gehörte Edith Piaf, dem ›Spatz von Paris‹, dieser wunderbaren Sängerin, die es nur
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