Hurra, wir leben noch
und anderswo … Viele Schwarze haben zu flüchten versucht … Die Weißen haben sie durch die Stadt gejagt … gesteinigt … erschlagen … erschossen …« Der kleine Mann konnte nicht mehr. Sein Blick hob sich hilflos. Er sah Jakob an. Jakob sah ihn an. Der kleine Mann bewegte den Kopf. Sie sahen beide die große weiße Wand mit ihren vielen, vielen Eisentüren. »Es ist eine solche Schande«, sagte der kleine Mann.
Jakob schwieg.
Jesus, dachte er, mein Freund Jesus. Wie lange haben wir einander gekannt. Wien. Die MP -Station. Hörsching. Der Fliegerhorst. Theresienkron. Wie oft warst du bei uns, bei mir und dem Hasen. Wie oft kamst du mit Kartons, mit Kisten, mit Lastwagen voller Geschenke. Und hast mit uns gelacht und gesungen und gegessen und getrunken. Wie alt warst du, Jesus? So alt wie ich. Sie haben dir eine Uniform angezogen und dich nach Europa geschickt. Du warst gut genug, am D-Day die steile Normandieküste hinaufzuklettern auf Seilleitern, rechts und links von dir stürzten Kameraden in die Tiefe, in den Tod, die deutsche Artillerie deckte euch ein. Du hast es überlebt. Du hast dich durch halb Europa gekämpft. Du hast es überlebt. So vieles hast du überlebt. Jetzt bist du tot. Erschlagen von Weißen.
Und deine Frau Fanny aus Linz, Austria, Jesus. Ich war in Tuscaloosa. Sie haben Feuer an viele Häuser gelegt. Auch an deines. Deine Frau ist verbrannt, man hat nur noch Knochen und etwas verbranntes Fleisch gefunden. Ich war draußen in Tuscaloosa mit den zwei Leibwächtern, die in Washington in mein Flugzeug gestiegen sind. Ich habe das Grauen in Tuscaloosa gesehen. Deine Frau war eine Weiße. Weiße haben sie ermordet. Deine Frau ist aus Linz mit dir nach Tuscaloosa gekommen, um von Weißen getötet zu werden.
Jakob schwankte.
»Was ist, Sir …«
»Nichts. Lassen Sie das Tuch fallen. Rollen Sie die Bahre zurück.«
Der kleine Mann befolgte die Worte so schnell er konnte. Dumpf fiel die Eisentür zu. Kreischend drehte sich ein Schlüssel. Als der kleine Mann sich umwandte, erschrak er. Der Fremde war nicht mehr da.
»Mister! He, Mister!«
Keine Antwort.
49
»Niggerlover! Niggerlover! Niggerlover!«
Im Eingang des Leichenschauhauses stürzten sie sich dann auf Jakob, zehn, zwölf, fünfzehn. Sie hatten ihn kommen sehen mit den beiden Leibwächtern. Sie hatten gewartet.
»Kill him! Kill him! Kill him!«
Sie fielen über ihn her. Es war ein Kräfteverhältnis, das ihnen Vertrauen verlieh. Jakob bekam eine Fahrradkette quer über das Gesicht. Dem Schlag mit einer Eisenstange auf seinen Schädel entging er durch eine blitzschnelle Bewegung. Er ließ sich über den dreckigen Boden rollen. Er erwischte eine andere Eisenstange. Er sprang hoch, den Rücken zur Wand. Und nun verlor er jede Beherrschung. Sein Haß, seine Trauer, sein Zorn brachen durch. Jakob schlug mit der Eisenstange zu – auf Schädel, Schultern, Arme. Wie ein Rasender kämpfte er.
Die Stange wirbelte durch die Luft. Blut rann über Jakobs Stirn. Blut spritzte von anderen Stirnen. Die ersten vom ›White trash‹ (›Weißen Abschaum‹) lagen bereits zu seinen Füßen. Aber er schlug weiter und weiter und weiter, wie eine Maschine, er wollte nun selber töten, töten, töten!
Er war von Sinnen. Sie versuchten zu flüchten. Er rannte ihnen nach. Er schlug sie im Laufen zusammen.
Eine Sirene erklang ganz laut.
Ein Laster mit schwerbewaffneten Soldaten hielt neben ihm. Der Mob raste davon. Soldaten sprangen vom Verdeck. Fünf Mann waren nötig, um Jakob festzuhalten, um ihm die Eisenstange zu entwinden, um ihn auf das Verdeck zu werfen. Der Schmerz, den er dabei empfand, brachte ihn wieder ein wenig zu sich. Er sah sich um. Rauch. Flammen. Die ganze Stadt schien zu brennen. Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern rasten vorbei.
»Was wollt ihr von mir?« brüllte Jakob.
»Wir bringen Sie ins Hotel! Da sind Sie sicher! Da ist ein Arzt! Der muß Sie behandeln! In das Hotel kommt keiner rein …«
»Ich will nicht ins Hotel!« schrie Jakob. »Ich will … Ich will … Laßt mich los!« Sie ließen ihn nicht los. Der Motor des Lasters heulte auf, er schoß vorwärts über die verwüstete Straße, vorbei an brennenden Häusern und geplünderten Läden.
»Wo sind die beiden Männer, die mit mir ins Leichenschauhaus fuhren?«
»Ihre Leibwächter?«
»Ja. Wo sind die?«
»Die haben wir schon vor einer Viertelstunde ins Krankenhaus gebracht.«
»Krankenhaus?«
»Sie wurden zusammengeschlagen … schwer
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