Hurra, wir leben noch
Herrgott nicht will, nützt das gar nichts. Dann ist es mir also bestimmt, zu sterben. In meiner Jugendmaienblüte. Am 26. Februar 1965. Auf der Brücke über die Mangfall. An meinem fünfundvierzigsten Geburtstag noch dazu.
Der Tod durch Erfrieren soll ja ein sehr gnädiger Tod sein, habe ich gehört. Man wird immer schläfriger und schläfriger, und dann ist man hinüber. Ach, Natascha, nun werde ich dir die Chinesische Schlittenfahrt doch nicht mehr verpassen können! Das ist schon traurig. Besonders wenn man bedenkt, was ich bereits in dich investiert habe. Und wenn man weiter bedenkt, daß ich dich auch schon zu erwecken angefangen habe. Beim letzten Mal vor drei Wochen, da hast du schon Geräusche von dir gegeben! Und was für welche! Dreimal hintereinander hast du geniest. Na ja, wir sind eben alle in Gottes Hand.
Jakob zuckte zusammen.
Was habe ich da gedacht?
Wir sind alle in Gottes Hand?
Steht es so arg um mich? Na ja, jetzt bin ich wenigstens sicher: Das ist also das Ende …
Er ließ sich sanft seitwärts gleiten. Seine Gedanken wurden leichter und leichter. Wie war das Gedicht, eh, der Gesang, den mir Natascha auf Cap d’Antibes vorgesprochen hat, von diesem Danton? Quatsch, Danton! Danton, das ist der mit den hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! Und meine geliebte Natascha hat mir vorgesprochen – rezitiert heißt das –, was dieser Darwin da geschrieben hat …
Gerade in der Mitte meiner Lebensreise
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren …
Aus.
Schluß.
Jakob war mitten in der Erinnerung an diesen Gesang friedlich eingeschlafen. Schnee stäubte ihn zu …
51
»Herifi son anda bulduk!«
»Lânet olsun! Arkasi donmaÿa başlamiş bile.«
»Herifin kimin nesi oldogunu da bilmiyoruz.«
Einen Moment mal, ja?
Ein ganz kleines Momentchen, bitteschön!
Wer spricht denn hier Türkisch?
Ich kann selber nicht Türkisch, aber ich war oft genug in der Türkei wegen diesem Plastikwerk, das ich denen da hingebaut habe, um zu wissen, wie Türkisch klingt. Für diese Sprache habe ich überhaupt einen gut entwickelten Sinn!
Aber wieso Türkisch?
»Inşallah yolda geberip gitmez!«
Keine Ahnung, was es bedeutet, aber Türkisch ist es, da will ich verrecken, wenn nicht.
Verrecken?
Vielleicht bin ich schon verreckt! Sehr wahrscheinlich. Auf der Brücke über die Mangfall. Erfroren. Im Himmel.
Sprechen sie im Himmel Türkisch?
Ach, Mensch, ich und in den Himmel kommen!
Sprechen sie also in der Hölle Türkisch?
Und wieso ruckelt und wackelt alles so unter mir? Ruckelt’s und wackelt’s so in einer türkischen Hölle? Das muß ich mir mal besehen, wie so eine Hölle, eine türkische, ausschaut!
Jakob öffnete die Augen.
Er fand, daß er auf dem Rücksitz eines sehr alten, sehr dreckigen Autos lag, das vollgestopft war mit Gepäckstücken – mit Koffern, Persilkartons, Taschen. Jakob hob etwas den Kopf. Er befand sich, so stellte er fest, in einem ziemlich kaputten Auto. Die Stoßdämpfer waren jedenfalls im … na ja. Nicht immer so ordinär sein wie dieser Schreiber! dachte Jakob.
Über ihm krachte etwas. Da sind auch noch Koffer auf dem Dach, überlegte er. Und sah nach vorne. Vorne saßen zwei Herren in desolater Winterkleidung. Der eine hatte einen Schal um den Kopf gewickelt, der andere rauchte eine Zigarette. Gott, was für ein Gestank! Ach was, erstunken ist noch keiner, erfroren schon so mancher. Jakobs benebeltes Hirn begann besser und besser zu arbeiten.
Die zwei Herren da vorne reden miteinander. Türkisch! Werden also wohl Türken sein. Türken in Bayern? Ach so, Gastarbeiter! Die kommen offenbar gerade aus der Heimat zurück, wenn man sich die Koffer und Kartons anschaut, in denen wohl ihre Kleidung verpackt ist. Die Weihnachtszeit haben sie daheim verbracht und alles Geld, das sie in der Bundesrepublik erschuftet haben, ihren Familien gegeben, die guten Kerle, und dann vermutlich noch Urlaub drangehängt, und jetzt fahren sie zurück, wieder schuften.
Also bin ich gar nicht tot!
Jakob wurde es heiß.
Also lebe ich noch, hurra!
Sein Herz klopfte wild.
»He …«, krächzte er.
Der Türke, der rechts saß, drehte sich um und sah ihn an. Noch nie hat mich ein Mensch so liebevoll betrachtet, dachte Jakob, dem die Tränen kamen.
»Okay?« fragte der Türke.
»Okay, ja. Ganz okay! Sie haben mich aufgelesen da auf der Brücke, meine Herren?«
»Nix
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