Hurra, wir leben noch
existierten bei uns wunderbare jüdische Witze. Diese jüdischen Witze hatten alle eines gemeinsam: Sie waren so lustig, daß man über sie vor Lachen brüllen, und dabei so traurig, daß man über sie vor Kummer weinen mußte. Das macht den guten jüdischen Witz aus. Wir werden hier nicht erklären, warum es heute fast keine derartigen Witze mehr gibt – es will doch keiner hören.
Nun, die Lieder auf Kreislers Platte sind genau so, wie die besten jüdischen Witze es gewesen sind: lustig, weise und traurig – alles in einem! Ein Lied handelt von einem armen Juden, der nichts hat und nichts ist und gedemütigt und verachtet wird von allen in seinem Städtel und der zu seiner Schwester nach Berlin eingeladen wird, wo es ihm glänzend gehen könnte, aber leider, er fühlt sich nicht zu Hause. Und so nimmt er die Einladung seines Bruders nach New York an, da könnte es ihm noch besser gehen als in Berlin, aber leider, er fühlt sich nicht zu Hause. Und so nimmt er die Einladung seines Schwagers nach Buenos Aires an, und da könnte es ihm noch viele Male besser gehen, aber leider, er fühlt sich auch da nicht zu Hause. Und deshalb reist er in seine wahre Heimat Israel, aber leider, auch hier fühlt er sich nicht zu Hause. Und so kehrt er schließlich in sein Städtel zurück, aus dem er auszog, und hier schaut man ihn nicht an, und hier verachtet und verhöhnt und demütigt man ihn – und hier endlich fühlt er sich dann zu Hause!
Wie gesagt, so eine Zeile aus so einem Lied, wenn sie sich erst einmal im Gehirn festsetzt, kann fürchterliches Unheil anrichten!
Jakob Formann war von Köln nach München gereist und von da in sein Schloß (das ihm nun nicht mehr gehörte) am Starnberger See, um das zu holen, was man ihm erlaubt hatte zu behalten, nämlich etwas Kleidung und eine Armbanduhr, Wische und Schuhe. (Das Fahrrad hatte er im Zug nachkommen lassen und in die Garage des Schlosses gestellt.) Mitten im Packen hörte er plötzlich das Telefon läuten. Er hob ab, und eine Männerstimme – die Mädchen der Telefonzentrale kamen längst nicht mehr – fragte ehrerbietig: »Entschuldigen Sie, spreche ich mit dem Herrn Baron Rothschild?«
Jakob wurde von einem Lachsturm geschüttelt.
»Lieber Gott im Himmel«, ächzte er, »sind Sie falsch verbunden!« Und legte auf. Er mußte immer weiter lachen.
Da läutete das Telefon wieder.
Wenn es derselbe Kerl ist und mir da einer das mit Fleiß macht, dann werde ich ihm jetzt etwas erzählen, dachte Jakob, riß den Hörer ans Ohr und brüllte: »Formann!«
»Mensch, Jake, bist du wahnsinnig geworden?« ertönte die Stimme eines entsetzten George Misaras.
»Nein.«
»Warum brüllst du dann so?«
»Schade um das viele Geld für das Gespräch, George! Du weißt doch, jetzt steht ihr alle auf eigenen Füßen. Nicht mehr auf meinen!«
»Deshalb rufe ich dich ja an!«
»Weshalb?«
»Weil ich … weil du … weil wir …« Misaras war verlegen. »Weil wir doch so alte Freunde sind! Und seit du gesagt hast, ich soll dir alle Bilanzen deiner Werke schicken, weiß ich, wie tief du im Dreck steckst.«
»Tiefer, als du überhaupt denken kannst«, amüsierte sich Jakob.
»Haben sie dir alles genommen, die Hunde?«
»Alles, natürlich.«
»Dann weißt du ja jetzt nicht einmal, wo du wohnen sollst! Dann hast du ja jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf!«
»Stimmt. Hier aus dem Schloß muß ich bis zum Abend raus sein.«
»Und wo willst du dann hin?«
»Es gibt Nachtasyle, mein Alter.«
»For Christ’s sake! Das ist ja grauenhaft! Das kommt, weil du nie an dich gedacht hast, sondern immer nur an andere. An uns, zum Beispiel! Mojshe, ich, der Wenzel und der Jaschke, die haben jetzt ihre schönen Häuser und Autos und Bankkonten und werden sie auch behalten. Du hast gar nichts! Auch deine Bankkonten haben sie dir natürlich genommen!«
»Natürlich auch die Bankkonten! Und recht geschieht mir!«
»Du kannst doch aber nicht in einem Nachtasyl schlafen!«
»Ich habe schon schlimmer geschlafen! Im Strafbunker in Rußland oder in einem Loch bei Artilleriebeschuß oder später dann in Wien in Wärmestuben … Es gibt schon eine Million Arbeitslose in Germany. Warum soll ich nicht dazugehören? Laß mich doch in Ruhe, George!«
»Shut up! Ich habe schon alles vorbereitet! In zwei Stunden holt dich ein Chauffeur aus München im Mercedes ab und bringt dich nach Riem, zum Flughafen! Dort gehst du zum LUFTHANSA -Schalter! Eine Karte liegt da für dich! Erster Klasse
Weitere Kostenlose Bücher