Hurra, wir leben noch
an. »Grüß Gott. Was hast du eben getan?«
»Ich habe dir eine geschmiert«, erwiderte Mrs. Fletcher zitternd.
»Geschmiert … Aber warum denn?«
»Damit du wieder zu dir kommst! Du warst auf einmal völlig weg und hast so wirres Zeug geredet …«
Absolut kraftlos ließ Jakob sich in einen weiß-goldenen Sessel mit rotem Samtbezug fallen.
»Wirres Zeug …«
»Ja.«
»Was für wirres Zeug?«
»Das weißt du doch selber!«
Unglücklich erwiderte er: »Ich habe keine Ahnung …« Er griff sich an den Kopf. »Nicht die Ahnung einer Ahnung … Was habe ich denn gesagt? Eine Schweinerei?«
»Viel schlimmer.«
»Dann sag’s mir doch!«
»Nein! Ich bin froh, wenn du ihn wirklich nicht mehr weißt, den ganzen Quatsch! Niemals werde ich es dir sagen! Wie konntest du nur …« Eine Idee kam ihr. »Hast du vielleicht vor kurzem in der Bibel gelesen?«
»Bibel?« wiederholte er verloren.
»Ja! In diesen Hotels liegt doch eine Bibel in jedem Nachttisch!«
»In jedem Nachttisch …«
»Erinnere dich, Jake! Es ist wichtig!«
»Wichtig … Warte … Ja, ich erinnere mich … Ich habe in so einer Nachttischbibel gelesen, während du im Bad warst, nachdem wir gerade …«
»Schon gut. Was hast du gelesen?«
»Weiß ich nicht … oder doch … Prediger Salomo … und dann in der Apostelgeschichte … die Sache mit der Bekehrung von diesem Paulus … nein, Saulus … was da in der Nähe von Damaskus passiert ist … die ganze Geschichte von dem Licht, das auf ihn zugestürzt gekommen ist vom Himmel, und dieses ›Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‹-Rufen der Stimme, die plötzlich gesagt hat … gesagt hat … ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat … jedenfalls ist der Saulus ein Paulus geworden, nachdem er seinen Unfall gehabt hat, du kennst ja die Story …«
Laureen mußte die Augen schließen. Sie kniete jetzt vor ihm, der Häkchenverschluß und der Reißverschluß waren wieder ganz aufgegangen, bis zum Höschen hinunter.
»Erleuchtung«, stammelte sie.
»Was, Erleuchtung?«
»Hast du gehabt. Du hast eine Erleuchtung gehabt! Du warst weg von einem Moment zum andern … und geredet hast du wie im Schlaf … aber jetzt bist du wieder wach, ja?«
»Vollkommen. Dein Reißverschluß ist offen.«
»Deiner auch, Liebling.«
Sie schloß seinen. Er schloß ihren.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte er wieder mit normaler Stimme. »Wir können den Handelsattaché nicht warten lassen.«
»Bist du auch bestimmt sicher, daß alles wieder okay mit dir ist?«
»Bestimmt.« Er lachte. »Muß ein richtiger Filmriß gewesen sein! Ich habe ja auch ganz schön was geleistet vorher, wie?«
»Das hast du, mein Schatz!« sagte Laureen.
Und dann lachten beide.
Paulus hat, wie alle großen Propheten und Religionsphilosophen unserer Welt, seine Erleuchtung schwer und qualvoll durchlitten. Danach war er ein anderer Mensch. Jakobs Erleuchtung war weder qualvoll noch schwer. Sie war gleich einem Traum gewesen, in dem man mit einem Male die Wahrheit über die Menschen und die Welt in blendender Klarheit erkennt – um schon im Augenblick des Erwachens nicht die winzigste Spur einer Erinnerung an das Erkannte zu haben. Nicht einmal eine Minute lang hatte Jakob – fürwahr ein seltenes Phänomen, wie uns die erwähnten psychiatrischen Zelebritäten bestätigen – den Schlaf der Wahrheit geschlafen. Und gleich danach alles vergessen, was er in ihm erkannt hatte. So also regelt sich diese Welt von selbst. Was dabei herauskommt, sollte eigentlich jeder sehen können. Für jene, die es trotzdem nicht sehen können, ist dieses Buch geschrieben.
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Das Foto zeigte das Gesicht eines Herrn mit edlem Aristokratenkopf, vollem schwarzem Haar und großen feurigen Augen. Das Foto lag auf der Damastdecke eines Tisches. Der Tisch war einer der besten des Lokals. Das Lokal war das berühmte russische Feinschmeckerrestaurant ›Sheherazade‹. Das Restaurant ›Sheherazade‹ liegt in der Rue de Liège. Ein normales Menü in der ›Sheherazade‹ kostete damals etwa dreimal soviel, wie ein französischer Staatssekretär im Monat verdiente. Der Franc war nicht derart wertlos wie die Deutsche Reichsmark, denn die Franzosen hatten ja den Krieg gewonnen, aber viel mehr wert war er auch nicht! Hatte man Dollars, dann konnte man in Dollars bezahlen!
Der im Augenblick sehr menschenscheue Franzl Arnusch, der in Laureens Wohnung in Neuilly geblieben war, hatte einige Dollars vorgeschossen. Sie genügten für ein
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