Hurra, wir leben noch
Bett – verrostet das Eisengestell – und Klosetts sowie Waschbecken in enormer Anzahl. Die Becken und Klosetts, hochgestapelt an allen vier Wänden bis hinauf zur Decke, beanspruchten mehr als zwei Drittel des Raumes – ein wahrhaft bedrohlicher Anblick.
Auf dem Bett saßen ein grauhaariger älterer Mann und eine grauhaarige Frau (aber offenbar jünger als er), beide sehr mager. Sie frühstückten auch gerade. Zwei Blechtassen erblickte Jakob, einen Spirituskocher (man muß ja Strom sparen!) sowie zwei Blechteller, auf denen vier äußerst dünne Scheiben trockenes Brot lagen.
Frau Dr. Malthus stellte Jakob vor. Die Herrschaften auf dem Bett waren Herr und Frau Kalder. Beide hatten Decken um die Schultern geschlungen – der großen Kälte wegen. Beide sprachen lupenreines Hochdeutsch – wie Frau Dr. Malthus. Feines Deutsch, aber nix zum Fressen, dachte Jakob, indessen er hörte, wie Frau Dr. Malthus die Sachlage erklärte und bat, Jakobs Sachen und die eigenen bügeln zu dürfen. Es wurde ihr gestattet. Jakob öffnete sein Bündel und entnahm ihm einen nassen Anzug, nasse Wäsche und den nassen Mantel.
»Sie müssen verzeihen, wenn wir uns nicht erheben, Herr Formann«, sagte Kalder und verbeugte sich im Sitzen. »Es ist wirklich sehr eng hier, wie Sie sehen.«
»Ich sehe«, sagte Jakob. »Was um Himmels willen wollen Sie mit all den Klosetts und Waschbecken?«
Kalder trank einen Schluck – Jakob erkannte eine durchsichtige hellbraun-grünliche Flüssigkeit – und lachte bitter. »Was wir damit wollen, Roxane, hast du gehört? Guter Witz, was?« Roxane, seine Ehefrau, nickte gramvoll. Ein so guter Witz schien es nicht zu sein. »Das ganze Zeug da hat der Bauer 1945 aus einer Fabrik – Industrie-Keramik, ganz in der Nähe – gestohlen, und seitdem bewahrt er es hier auf.«
»Aber wozu?« fragte Jakob.
»Für die neue Währung natürlich, Herr Formann.«
»Was für eine neue Währung?«
»Na, hören Sie! Die R-Mark ist doch überhaupt nichts wert! So kann es doch nicht weitergehen, nicht wahr? Eine Währungsreform muß kommen, wird kommen, jedermann spricht davon!«
»Ach so, natürlich, eine neue Währung muß kommen«, sagte Jakob, den Wickelrock krampfhaft zusammenhaltend, denn Roxane starrte diesen und die darunterliegenden Partien gebannt an wie das Kaninchen die Schlange. »Muß kommen, aber keiner weiß, wann …«
»Eben! Und so wartet der Bauer. Er hat Zeit. Wir sind froh, daß wir in diesem Zimmer eine Bleibe gefunden haben. Es gab nichts anderes mehr in Murnau. Die Bootshäuser am Staffelsee waren auch schon alle überbelegt, als wir kamen. Wir müssen dem Bauern sehr dankbar sein, daß er uns das Zimmer hier für dreihundert Mark vermietet hat.«
»Im Jahr?«
»Im Monat, Herr Formann!«
»Das fette Schwein, das elendige – entschuldigen Sie, meine Damen.« Ich kann mich einfach nicht benehmen, dachte Jakob betrübt.
»Nichts zu entschuldigen, Herr Formann«, sagte Roxane. »Wir sitzen hier in der Kälte und schlafen in Kleidern und Mänteln, und am Morgen ist uns immer das Kinn an die Decke gefroren vom Atem, der zu Eis wird – und die Attingers überheizen ihre Räume unten und nehmen den armen Städtern für ein paar Eier oder ein Stück Schinken Bechstein-Flügel und Smyrna-Teppiche und was weiß ich noch alles ab. Sogar eine Harfe!«
»Wie?«
»Bitte, Roxane …«, murmelte Kalder.
»Ist doch wahr, Jan! Und sind so fett, daß sie Abmagerungstee trinken müssen!«
»Das habe ich gesehen.«
»Ach, Sie haben längst nicht alles gesehen! Im Schweinestall sollten Sie sich mal umschauen! Die Harfe! Ein Harmonium! Und Teppiche und Brücken liegen da einen halben Meter hoch übereinander!«
Jakob konnte diesen Jammer nicht länger ertragen. Er öffnete den zum Platzen vollen Brotbeutel. Den Inhalt hatte er eigentlich dem Ingenieur Jaschke mitbringen wollen. Der muß sich jetzt mit der Hälfte zufriedengeben, dachte Jakob, ich hole noch mehr. Und er häufte seine Gaben auf den Tisch – Speck, Butter, Kaffee, Zucker, Marmelade, Fleischkonserven, dazu Mehl, Kaugummi, Zigaretten und drei Zigarren.
Totenstill war es in dem zum Wohnzimmer umfunktionierten Lagerraum für sanitäre Anlagen geworden. Frau Dr. Malthus und das Ehepaar Kalder starrten die Bescherung an. Jakob wurde es ungemütlich. Roxane begann heftig zu heulen. Das auch noch, dachte Jakob.
»Herr Formann … Herr Formann … Sie sind … sind …«
»Der gute Mensch von Sezuan«, sagten Frau Dr.
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