Hurra, wir leben noch
Malthus und Jan Kalder feierlich im Chor.
»Von wo?« forschte Jakob, mit einem sehr unguten Gefühl im Magen. Die reden alle so gepflegt …
»Von Brecht«, sagte Dr. Malthus.
»Vorher haben Sie was anderes gesagt, Frau Doktor Malthus!«
»Sezuan. ›Der gute Mensch von Sezuan‹ ist ein Theaterstück von Bertolt Brecht«, sagte Frau Dr. Malthus fein lächelnd. Herr und Frau Kalder lächelten auch. Auch fein.
Verflucht, dachte Jakob, ausgerechnet mit so vornehmen und gebildeten Leuten muß ich zusammenkommen hier in Murnau! Hätte ich mich bloß nicht im Bootshaus geirrt. Jetzt bin ich glücklich bei … bei … Es gibt doch da einen Ausdruck … Ach ja, bei
Intellellen
bin ich gelandet, Gott verdammich!
61
Eine halbe Stunde später …
Zwei glückliche Intellelle hatten sich über Jakobs Gaben hergemacht, die dritte bügelte gerade seine Hosen. (Wenigstens ein Reise-Bügeleisen hatten Kalders in ihrem Flüchtlingsgepäck gerettet, und wunderbarerweise gab es in dem Sanitäre-Anlagen-Wohnraum sogar eine Steckdose.) Und aß dazwischen. Den halben Tisch bedeckten verschlissene Bettücher als Unterlage, auf dem Frau Dr. Malthus bügelte. Die andere Hälfte des Tisches bedeckten Jakobs Gaben. Er selbst saß auf einem abgestoßenen Koffer in der Ecke. Könnte ich bloß raus hier, dachte er. Dieses Geschwätz macht mich noch wahnsinnig! Aber ich kann nicht raus, bevor diese Zimtzicke von Ingeborg Malthus meine Sachen trockengebügelt hat. Und das wird noch ein Weilchen dauern! Aber das Bügeln vorhin ist lustiger gewesen …
Sehr viel lustiger war es auch als das unverständliche Geschwätz, dem er jetzt zuhören mußte, ob er wollte oder nicht.
»›Der Mensch‹ – wenn Sie erlauben, daß ich Leo Gabriel zitiere, mein Verehrtester – ›steht vor der Frage nach dem Sinn des Seins, daß er ist, in seiner Verantwortung, denn er ist sich ihr überantwortet‹.«
»Das trifft den Nagel auf den Kopf, Frau Doktor. Lassen Sie mich noch einmal vorlesen: ›Denn der Mensch‹ – mein Gott, schmeckt diese Marmelade gut! – ›ist nicht in abstracto, sondern er ist je-immer in einer konkreten Situation, in der er angesprochen wird. Die Existenz besteht ganz allgemein darin, daß ich je-immer in einer Lage bin, in einem ›Da‹ bin – sagen wir besser ›In-Sein‹ – und im besonderen darin, daß ich da-seiend in der Lage bin, Seiendes zu verstehen, dies aber‹ – Achtung, bitte! – ›weil ich nicht als ein Gegenstand unter anderen Gegenständen, als ein Seiendes unter Seienden da bin, sondern da-seiend ek-sistiere, und das heißt: aus allem heraus-stehe!‹ Wird nicht trocken, die Hose, wie?«
»Nein. Starke Spannungsschwankungen. Sie haben absolut recht, lieber Herr Kalder. Auch bei Husserl tritt dieser Gedanke, daß das faktische Dasein als unwesentlich bei einer Wesens-Erhellung außer Betracht bleiben müsse, deutlich hervor. Gerade diese Ausklammerung des Daseins ist aber nach Heidegger unmöglich, und zwar deshalb, weil eben darin dasjenige liegt, worauf es ankommt.«
»Genau so ist es, Frau Doktor. Wie der Speck riecht! Und wie sagt Heidegger doch so herrlich: ›Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz!‹ Und noch dies: ›Die Welt ist ebenso unmittelbar da wie das menschliche Dasein selbst!‹«
»Sie dürfen aber auch Kierkegaard nicht unbeachtet lassen, lieber Herr Kalder! Der hat diesen merkwürdigen Sachverhalt der Beziehungen zu sich selbst nicht anders zu verdeutlichen gewußt als durch die paradoxe Bestimmung des Geistes als eines Verhältnisses, welches sich zu sich selbst verhält …«
Und so ging das weiter, bis Hose und Jacke endlich trockengebügelt waren. Jakob hielt sich an dem alten Koffer fest. Alles drehte sich um ihn. Nur weg hier, weg! Die drei sind doch verrückt! Welcher vernünftige Mensch erträgt denn so ein Gequatsche?
Das ist kein Gequatsche, Jakob, sagte ihm eine innere Stimme mahnend, sondern das ist eine intellelle Konversation, und du bist ein ungebildetes Rindvieh! Und weg kannst du hier nicht, denn dein Hemd und deine Unterhosen und deine Strümpfe und dein Mantel sind noch nicht trockengebügelt.
Frau Dr. Malthus mit dem hinreißenden Popo nahm sich das Hemd vor (Seidenhemd, Geschenk von Laureen, aus Paris, dachte Jakob) und sagte mit einem mitleidigen Blick: »Wir langweilen Sie, Herr Formann!«
»Aber überhaupt nicht, liebe Frau Doktor!« Jakob entschloß sich zu einem tollkühnen Schritt. Ohne mit der Wimper zu zucken, gab er
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