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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Perücke, mit entblößten braunen Locken, die auf dem Wohnzimmerboden
lag und gellend schrie. Ihr Gesichtchen war blaurot vor Wut, und über ihre erhitzten
Backen strömten Tränen und Rotz, während sie mit den Hacken gegen einen Stuhl trat
und mit den Fäusten auf den Boden schlug. Von Simon oben im Schlafzimmer kam stoßweise
verzweifeltes Heulen, und vor mir stand Ashley. Nur ungefähr einen halben Meter
von Flora entfernt, schaute sie mit ausdruckslosen, stumpfen Augen auf das Kind
hinunter, und ich sah ihren Mund ein einziges Mal zucken. Als ihr klarwurde, dass
jemand hereingekommen war, und sie mich im gleichen Moment erkannte, wurde ich Zeuge
der augenblicklichen Verwandlung ihrer Miene zu sorgenvoll und hilflos. Ich schnappte
mir Flora, nahm sie in den Arm und drückte sie eng an mich. Der Anfall hörte nicht
auf, aber ich redete auf sie ein. «Ich bin's, Mia. Was ist denn passiert?» Da merkte
ich, dass sie schrie: «Ich will meine Haare! Haare!»
    «Wo ist ihre
Perücke?»
    Ashley sah
mich an. «Ich hab sie weggeschmissen. Sie war eklig.»
    «Hol sie auf
der Stelle her!», knurrte ich sie an.
    Flora hörte
auf, sich zu winden, sobald ihre «Haare» wieder an ihrem Platz waren, und mit dem
schniefenden Kind auf dem Arm ging ich ins Schlafzimmer hinauf, um Simon zu retten.
Da ich Flora absetzen musste, um Simon hochzunehmen, wies ich sie an, mein Bein
zu umarmen. Der kleine Babykörper krümmte sich vor Schluchzen. Ich hob ihn aus dem
Bett und begann ihn zu wiegen, bis er sich beruhigte. Jetzt ein einziger dreiköpfiger
Körper, tapsten wir langsam die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
    Der Mensch,
den ich gesehen hatte, als ich kam, war verschwunden. An seiner Stelle war da jene
Ashley, die ich aus dem Kurs kannte, ein Mensch, der erleichtert über mein Eingreifen
war, ein überforderter Mensch, ein Mensch, der nicht gewusst hatte, was er tun sollte,
als Flora sich Erdnussbutter in die Perücke geschmiert hatte, ein Mensch, der versucht
hatte, Simon aus seinem Bettchen zu nehmen, aber Angst gehabt hatte, Flora allein
zu lassen. Es war alles völlig logisch. Waren Lola und Pete von allen guten Geistern
verlassen, einer Dreizehnjährigen zwei Kinder unter vier Jahren anzuvertrauen?
Ich ließ mich auf keine Debatte mit ihr ein. Ich sagte ihr, ich verstände. Was hätte
ich sonst sagen sollen? Als ich reinkam, habe ich etwas an dir gesehen, was mich
schockiert hat? Ich habe es dir an den Augen, am Mund abgelesen? Solche Einblicke
zählen nicht im sozialen Diskurs; sie mögen wahr sein, doch sie auszusprechen wirkt
gestört. Nachdem ich es uns dreien auf dem Sofa bequem gemacht hatte, bat ich Ashley,
Simons Fläschchen zu holen, und schickte sie nach Hause.
    Beide Kinder
waren erschöpft. Simon sank nach dem Füttern in sich zusammen, seine zur Faust geballte
winzige Hand an mein Schlüsselbein gepresst. Flora fand etwas tiefer an meinem
Körper eine Anschmiegstelle und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Wir schliefen
ein.
     
    Ich erwachte
von Lolas Berührung. Ihre Hand fuhr über meine Stirn in mein Haar. Ich hörte Schritte
in der vorderen Diele, der tyrannische oder zu bemitleidende Pete (je nach meiner
Laune), und spürte, wie Lola mir Simon aus den Armen nahm. Sie roch nach Alkohol,
und ihre Augen hatten einen wässrigen, sentimentalen Blick. Ich gab ihr eine kurze
Zusammenfassung. Sie lächelte nur, meine Madonna vom Einfamilienhaus in ihrem tief
ausgeschnittenen Glitzertop, ihren engen Jeans und ihren goldenen Ohrringen - zwei
Eiffeltürmen, die leicht schaukelten, als sie auf mich heruntersah.
    Dr. S. und
ich führten ein ausführliches Gespräch über Boris' Wohnarrangement, in dessen Verlauf
ich einen kleinen Eimer voll Tränen vergoss, und dann erzählte ich ihr von dem
blutigen Kleenex, von Alice' Flucht, Mrs. Lorquats Beschwerde und Ashleys Gesicht.
Ich gebrauchte den Satz: «Ich spüre, dass sich etwas zusammenbraut», und sah Hexen
an ihrem Sabbat Kröten dünsten. Dr. S. war auch der Meinung, dass die Mädchen möglicherweise
in Beliebtheitskämpfe verwickelt waren, dass sie aber keinen Hinweis auf irgendetwas
Unheimlicheres erkennen konnte. Mein Bluttraum interessierte sie mehr. Perioden.
Die Veränderung. Keine Kinder mehr. Die Babys nebenan. Es gibt eine sehnsüchtige
Traurigkeit, wenn die Fruchtbarkeit endet, ein Sehnen, nicht danach, zu den Tagen
des Blutens zurückzukehren, aber ein Sehnen nach der Wiederholung an sich, nach
dem stetigen monatlichen Rhythmus, nach dem unsichtbaren Ziehen

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