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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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die Chagas-Krankheit. Allerdings war Frankies Vorrat
an Verwandten so groß, dass er von einer unserer Begegnungen auf der Seventh Avenue
zur nächsten die Namen der frisch Verstorbenen vergaß.
    Lolas Augen
leuchteten vor Vergnügen und Interesse, während sie meinen Kosmopolitengeschichten
lauschte, die alle wahr waren, aber dennoch lauter Fiktionen. Unserer Intimität
entkleidet und aus erheblichem Abstand gesehen, sind wir alle komische Figuren,
lächerliche Clowns und wursteln uns durchs Leben, wobei wir unterwegs hübsche Schlamassel
hinterlassen, aber bei näherem Hinsehen wird das Lächerliche schnell vom Schmutzigen
oder Tragischen oder einfach Traurigen überblendet. Es spielt keine Rolle, ob man
im Provinznest Bonden festsitzt oder über die Champs-Elysees schlendert. Das einfach
Traurige an mir war, dass ich bewundert werden, mich als strahlenden Abglanz in
Lolas Augen sehen wollte. Ich war nicht anders als Flora. Schau mal, Mommy! Guck
mal, wie ich Rad schlage, Dad! Schaut Mia bei ihren Worttänzen in Sheri und Allan
Burdas von Unkraut überwuchertem Garten mit dem schnell erschlaffenden Planschbecken
zu.
    Nachts bekam
ich dann eine Nachricht von Boris, der mir mitteilte, dass Roger Dapp aus London
zurückkam, was bedeutete, dass er seine befristete Bude verlieren und bei der Pause
einziehen würde. Bis auf Weiteres war das praktisch. Er wollte, dass ich das wusste. Es war nur fair. Ich nahm es wie eine Frau. Ich weinte.
    Man mag sich
fragen, warum ich Boris überhaupt wollte, einen Mann, der seiner Noch-Ehefrau mitteilt,
dass er aus «praktischen» Gründen mit seiner neuen Tussi zusammenzieht, als wäre
diese schockierende neue Regelung bloß eine New Yorker Immobiliensache. Ich fragte
mich selbst, warum ich ihn wollte. Hätte Boris mich nach zwei oder auch zehn Jahren
verlassen, wäre der Schaden erheblich geringer gewesen. Dreißig Jahre sind eine
lange Zeit, und eine Ehe bekommt etwas Eingefleischtes, beinahe Inzestuöses, mit
einer komplexen Rhythmik von Gefühlen, Gesprächen und Assoziationen. Es war so weit
gekommen, dass wir in unseren Köpfen gleichzeitig dasselbe dachten, wenn wir bei
einer Dinnerparty eine Geschichte oder Anekdote hörten; es ging nur noch darum,
wer von uns den Gedanken zuerst laut aussprechen würde. Auch unsere Erinnerungen
hatten sich allmählich vermischt. Boris schwor Stein und Bein, dass er es gewesen
war, der auf den Graureiher vor dem Eingang unseres gemieteten Hauses in Maine stieß,
und ich bin genauso sicher, dass ich den riesigen Vogel allein sah und ihm davon
erzählte. Es gibt keine Antwort auf das Rätsel, keinen Beleg - nur den dünnen, veränderlichen
Stoff aus Erinnerung und Imagination. Einer von uns hatte den arideren die Geschichte
erzählen hören, hatte sich in seiner oder ihrer Phantasie die Begegnung mit dem
Vogel ausgemalt und aus den geistigen Bildern, die mit der gehörten Erzählung einhergingen,
eine Erinnerung geschaffen. Innen und außen werden leicht verwechselt. Du und ich.
Boris und Mia. Geistige Überlappung.
    Ich erzählte
meiner Mutter nichts vom neuen Status der Pause. Dadurch würde er wirklich werden,
wirklicher, als ich vorerst bereit war zu akzeptieren. Schade, dass ich wirklich
bin, hatte Flora gesagt. Sie hatte in das Häuschen klettern und bei ihren Spielsachen
wohnen wollen. Schade, dass ich keine Figur in einem Buch oder einem Theaterstück
bin, nicht, dass es für die meisten von ihnen so gut liefe, aber dann könnte ich
anderswo geschrieben sein. Ich werde mich anderswohin schreiben, dachte ich, werde
die Geschichte in einem neuen Licht neu erfinden: Ohne ihn bin ich besser dran.
Hat er in seinem Leben außer Spülen jemals Hausarbeit gemacht? Hat er dich nicht
regelmäßig abgestellt, als wärst du ein Radio? Hat er dich nicht unzählige Male
mitten im Satz unterbrochen, als wärst du ein wesenloses Nichts, eine Ms. Niemand,
bei Tisch gar nicht anwesend? Bist du nicht - in den Worten deiner Mutter - «noch
schön»? Bist du nicht noch großer Dinge fähig?
    Glück und Unglück der berühmten Mia Fredricksen, die, in Bonden geboren, nach
vollendeter Kindheit noch sechzig wechselvolle Jahre durchlebte; dichterische Buhle
und Mätresse von Gott und der Welt, dreißig Jahre lang Gespons (eines Naturforschers
und Schuftes); erlangte schließlich durch die vielstimmigen Bemühungen ihrer Feder
Reichtum und Ruhm, lebte zumeist ehrbar und starb reuelos.
    Oder: «Keiner
wusste, wer Fredricksen war. Sie ritt im Sommer 2009 in die

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