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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Mutter saß neben ihr auf dem Sofa und
streichelte ihren Rücken. Regina machte Geräusche: ein hohes, abgehacktes Gejammer.
    «Sie ist gestürzt»,
sagte Mama mit bleichem Gesicht. «Gerade eben.»
    Abigail untersuchte
ihre Knie; sie sah verwirrt aus, und mich durchzuckte die Angst. Ich beugte mich
über sie, nahm ihre Hand und stellte die üblichen Fragen, angefangen mit: «Geht
es Ihnen gut?», und dann weiter zu Details über Schmerzen und ungewohnte Empfindungen.
Sie antwortete nicht, sondern starrte stur weiter nach unten und schüttelte nur
langsam den Kopf.
    Regina fuchtelte
mit den Händen in der Luft herum. «Ich ziehe jetzt sofort die Hilfeklingel. Ich
gehe ins Bad und reiße daran. Sie kann nicht sprechen. O Gott. Ich muss Nigel anrufen.
Er wird wissen, was zu tun ist.» (Nigel war der Engländer, und was genau er in Leeds
für Abigail in Bonden tun sollte, war ein nur Regina bekanntes Geheimnis.)
    Abigail wandte
sich ihrer panischen Freundin zu und sagte laut und gelassen: «Regina, halt den
Mund. Helf mir lieber mal jemand, meinen BH zu richten, bevor er mir die Luft abschnürt.»
    Regina sah
gekränkt aus. Sie faltete die Hände und sank mit einem damenhaften Schmollen in
ihrem immer noch erstaunlich hübschen Gesicht auf das Sofa zurück.
    Gemeinsam schafften
es meine Mutter und ich, das störende, in der Aufregung hinaufgerutschte Kleidungsstück
herunterzuziehen und unsere gemeinsame Freundin auf das Sofa zu betten.
    «Abigail, ich
bin ja so erschrocken», sagte meine Mutter. Die Angst vor Stürzen war verbreitet
in Rolling Meadows. Manche, wie George, kamen nie wieder auf die Beine. Hüften wurden
ausgerenkt, Knöchel gebrochen, und nie wieder wurden sie wie vorher. Alte Knochen.
Dass Abigail sich nicht irgendein Teil ihres hinfälligen Skeletts gebrochen hatte,
kam mir wie ein Wunder vor. Später erfuhr ich, dass meine Mutter, vielleicht unklugerweise,
mit ihrem eigenen Körper dazwischengetreten war und den Sturz in einen langsamen
Fall verwandelt hatte.
     
    Irgendwann
im Lauf des folgenden Gesprächs merkte ich, dass Abigail sich erheblich besser fühlte,
denn sie begann mir mit den Augenbrauen Signale zu geben, worauf sie den Blick
auf ihren Schoß richtete. Ich hatte keine Ahnung, was das sollte, bis ich sah, dass
sie die Hände in die Taschen ihres bestickten Kleides steckte und einen Teil des
roten Futters nach außen kehrte. Die Frau trug tatsächlich eine heimliche Vergnügung.
In den Taschen ihres Kleides war irgendeine subversive Botschaft verborgen, eine
erotische Stickerei oder so etwas, zweifellos vor Jahren entstanden. Ich telegrafierte
mein stummes Verständnis der Tatsache, dass das Kleid sozusagen geladen war, eine
weitere Geheimwaffe aus Abigails Privatarsenal, und dieses stillschweigende Wissen
zwischen uns schien ihr aufrichtige Freude zu machen, denn sie lächelte listig und
schickte mir ein paar zusätzliche Augenbrauenhebungen, um unsere Komplizenschaft
zu bekräftigen. Dann kam Peg, und nachdem sie die Geschichte gehört hatte, reagierte
sie typgerecht, indem sie Abigail als «gesegnet» und meine Mutter als «Heldin»
bezeichnete (eine Bezeichnung, die meine Mutter entschieden zurückwies, die ihr
aber sichtlich gefiel), und dann wandte Peg sich Robin Womack zu, einem lokalen
Fernsehstar mit üppigem Haar. Sie beendete ihre Lobrede mit dem Satz: «Der kann
jederzeit seine Schuhe unter mein Bett stellen!» Obwohl ich den Hinweis auf die
Schuhe überflüssig fand, vermittelte diese Erlaubnis eindeutig, wie sehr ihr Womack
und sein volles Haar gefielen.
    Ich bin mir
nicht sicher, wie genau wir bei der Lyrik landeten, aber die Schwäne erinnerten
sich liebevoll einiger Zeilen, die sie in früheren Tagen bezaubert hatten. Peg
wandert' einsam wie die Wolke, und meine Mutter las aus Stevens' «Der Leser» vor,
das so endet: «Die düstren Seiten trugen keine Schrift,/Nur der verglüh'nden Sterne
Spur/An frost'gem Himmel.» Regina erinnerte sich an Joyce Kilmers unsterblichen
amerikanischen «Baum», und ich sagte Ron Padgetts Gedicht «Haiku» auf: «Das ging aber schnell/ich meine/das Leben.» Über dieses Gedicht
hatte ich immer lauthals lachen müssen, aber keinem der Schwäne entlockte es auch
nur das leiseste Kichern oder Schnauben. Meine Mutter lächelte traurig. Abigail
nickte. Pegs Augen wurden glasig, vermutlich von Erinnerungen. Regina schien den
Tränen nahe zu sein, doch dann verlieh sie laut der Hoffnung Ausdruck, dass ich
«dieses Gedicht» nicht meinen Mädchen

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