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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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womöglich geweint, bevor
er mich traf. Ich sagte ihm, er sehe schlecht aus, wie ein Clochard, aber er sagte
einfach immer wieder, es gehe ihm gut. Es geht mir gut. Es geht mir gut. Mr. Verleugnung.
Was denkst Du? Sollte ich weiter versuchen, ihn zum Sprechen zu bringen? Einen Detektiv
losschicken? Jetzt dauert es nicht mehr lange, Mamacita, bis ich Dich sehe!
    Einen dicken
Kuss von Deiner etwas benommenen und immer noch von Daddy enttäuschten Daisy
     
    Ich antwortete:
     
    Es ist unmöglich,
dass Dein Vater geweint hat. Er weint nur im Kino. Aber kümmere Dich um ihn. In
Liebe, Mom
     
    Ich kannte
Boris ungefähr eine Woche, als er mich in Elia Kazans Ein Baum wächst in Brooklyn ins Thalia an der 95th Street Ecke
Broadway ausführte. An einer Stelle des Films betritt die junge Heldin, gespielt
von Peggy Anne Garner, einen Friseurladen, um die Rasierschale ihres toten Vaters
abzuholen. Es ist eine bewegende Szene. Das Mädchen vergötterte den versoffenen,
sentimentalen Vater mit seinen falschen Hoffnungen und untauglichen Träumen. Ihn
zu verlieren ist ein schwerer Schlag für sie. Ich glaube nicht, dass Boris schniefte,
obwohl es schon so gewesen sein mag, aber aus irgendeinem Grund sah ich ihn an.
Aus dem Mann neben mir quollen Tränen in zwei starken Bächen, und die Flüssigkeit
tropfte vom Kinn auf sein Hemd. Ich war so erstaunt über diesen Gefühlsausbruch,
dass ich ihn höflich ignorierte. Mit der Zeit begriff ich, dass Boris viel direkter
auf Indirektes reagierte, seine wahren Gefühle kamen also nur durch Irreales vermittelt
an die Oberfläche. Immer wieder hatte ich trockenen Auges neben ihm gesessen, während
er schniefend Schauspieler auf einer großen flachen Leinwand beweinte. Niemals
hatte ich ihn in der sogenannten wirklichen Welt weinen sehen, weder wegen Stefan
noch wegen seiner Mutter, noch wegen mir oder Daisy, noch wegen toter Freunde oder
sonst irgendwelcher Menschen, die nicht aus Zelluloid waren. Angesichts dessen erschütterte
mich der seltsam beängstigende Gedanke, Boris sei ein anderer geworden und die
Pause — falls das Treffen mit Daisy nicht unmittelbar nach einem Kinobesuch stattgefunden
hatte (was unwahrscheinlich schien, da er die ganze Zeit arbeitete und sich in den
letzten Jahren Filme meistens auf DVD angesehen hatte) - könne die Tiefenstruktur
seines Charakters verändert haben. Weinte er ihretwegen, der nach neuen Neuropeptiden
suchenden Französin? War die Wand ihretwegen zusammengebrochen?
    Niemand lief
Amok. Niemand verstand Niemand - das war des Pudels Kern. Wir zwei waren auf «das
schwere Problem» gestoßen: Bewusstsein. Was ist das? Warum haben wir es? Mein hochgradig
bewusster Brieffreund eiferte gegen die monumentalen Dummheiten des Szientismus
und gegen die Atomisierung von Prozessen, die eindeutig ein Ganzes waren, «ein Fluss,
eine Flut, eine Welle, ein Strom, keine in einer Reihe angeordneten soliden Kieselsteine!
Jeder Idiot sollte in der Lage sein, diese Wahrheit intuitiv zu erfassen. Lies Deinen
William James, diesen umwerfenden Melancholiker!» Als eine Art Thomas Bernhard der
Philosophie erging sich Niemand in giftigen Wutanfällen, die auf mich seltsam beruhigend
wirkten. Auch ich verehrte den umwerfenden Melancholiker, lenkte Niemand aber zu
Plutarchs Flux und Fließen und darauf, wie er in De communibus notitus mit griechischem Scharfsinn auf die
Stoiker schimpfte:
    1. Alle individuellen
Stoffe sind im Fluss und in Bewegung, wobei sie Teile von sich loslassen und andere
von anderswo herkommende aufnehmen.
    2. Die Zahl
und Menge, mit denen sie kommen oder gehen, bleiben nicht konstant, sondern ändern
sich mit der Bereitschaft des Stoffes, die besagten Kommenden und Gehenden zu transformieren.
    3. Dass diese
Veränderungen durch Brauch allgemein Wachstum und Schrumpfung genannt werden, ist
nicht richtig. Es wäre sachgemäßer, sie stattdessen Schöpfung und Zerstörung (phthorai) zu nennen, weil sie ein Ding aus seinem bestehenden
Charakter in einen anderen treiben, wohingegen Wachstum und Schrumpfung einem Körper
widerfahren, der der Veränderung unterliegt und währenddessen ganz bleibt.
     
    Die Geschichte
ist alt. Wann wird ein Ding ein anderes? Woher wissen wir es? Niemand griff auch
Boris als naiv an, als einen Mann, dessen Ideen von einem Sub- oder Primärselbst
absurd, unangebracht seien. «Man kann das Selbst nicht in neuralen Netzen lokalisieren!»
Ich verteidigte mein abspenstiges Familienmitglied mit einigem Nachdruck mit dem
Argument,

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