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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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gegeben hätte, worauf ich antwortete, die
könnten ja doch nichts damit anfangen, weil in ihrem Alter das Leben noch wirklich
lang sei. Zeit ist sowohl eine Frage von Prozenten wie von Glauben. Wenn du vor
einem halben Leben sechs oder sieben warst, ist die Zeitspanne dieser Jahre länger,
als es fünfzig Jahre für einen Hundertjährigen sind, weil junge Menschen die Zukunft
als endlos erleben und Erwachsene normalerweise für Angehörige einer anderen Art
halten. Nur die Altgewordenen haben Einsicht in die Kürze des Lebens.
    Dann teilte
Regina mir in einer konfusen, frustrierend andeutungsschwangeren Rede mit, dass
einem der Mädchen in meinem Kurs etwas «zugestoßen» sei. Sie konnte sich bloß nicht
an den Namen des Kindes erinnern. «Vielleicht Lucy, nein, Janet, nein, das auch
nicht.» Aber wie immer das Mädchen auch heißen mochte, Regina hatte die Sache von
Adrian Bortwaffles Schwager erfahren, der ein enger Freund von Tony Rosterhaus war
(Tonys Beziehung zu meinem Kurs war mir und Regina völlig schleierhaft), und der
wiederum hatte gehört, dass es da irgendeinen Unfall gegeben und das Mädchen eine
Nacht im Krankenhaus verbracht habe.
    Es gibt Zeiten,
wo die Zerbrechlichkeit alles Lebenden so offensichtlich ist, dass man jeden Augenblick
auf einen Stoß, Sturz oder Bruch zu warten beginnt. Ich war in diesem Zustand,
seit Boris mich verlassen hatte und meine Nerven aus den Fugen geraten waren, nein,
schon früher, seit Stefans Selbstmord. Es gibt keine Zukunft der Vergangenheit,
weil was sein wird, nicht vorgestellt werden kann, außer als eine Form der Wiederholung.
Ich hatte angefangen, mit Schicksalsschlägen zu rechnen.
    Meine Mutter
und ich brachten Abigail zu ihrem Apartment und halfen ihr, es sich auf ihrem Sofa
gemütlich zu machen. Sie befahl uns mehrere Male, mit dem «Getue» aufzuhören, aber
ich las ihr die Erleichterung darüber, dass sie nicht, noch nicht, allein war, am
Gesicht ab. Sie versprach, zum Arzt zu gehen, und küsste uns beide, bevor wir gingen.
    Später an jenem
Abend sah ich den buntschillernden Bluterguss, den meine Mutter an der Seite davongetragen
hatte, als sie ihre Freundin vor dem Sturz bewahrt hatte. Der Rollator war irgendwie
dazwischengeraten, und meine Mutter musste hart dagegengestoßen sein. «Du darfst
das Abigail gegenüber nicht erwähnen», sagte sie. Sie sagte es mehrmals, und ich
versprach es mehrmals. Wir saßen im Wohnzimmer, und ich spürte die Stille in dem
fast lautlosen Gebäude — nichts als der Ton eines Fernsehgeräts weit weg.
    «Mia», sagte
sie, kurz bevor ich ging. «Ich möchte, dass du weißt, dass ich es genauso wieder
machen würde.»
    Meine Mutter
tat manchmal so, als hätte ich Zugang zu ihren Gedanken. «Was denn, Mama?»
    Sie sah überrascht
aus. «Deinen Vater heiraten.»
    «Du meinst,
trotz eurer Differenzen?»
    «Ja, es wäre
schön gewesen, wenn er ein bisschen anders gewesen wäre, aber er war es eben nicht,
und es gab so viele gute Tage neben den schlechten, und manchmal war das, was ich
an ihm ändern wollte, genau das, was an einem anderen Tag etwas anderes, Gutes,
nicht Schlechtes, möglich machte, wenn du verstehst, was ich meine.»
    «Zum Beispiel?»
    «Sein Gefühl
für Pflicht und Ehre, seine Rechtschaffenheit. Weswegen ich an dem einen Tag hätte
schreien mögen, darauf war ich am nächsten Tag stolz.»
    «Ja», sagte
ich. «Ich verstehe.»
    «Ich wollte
dir sagen, wie gut es ist, dich bei mir zu haben, wie glücklich ich bin. Es macht
mir Spaß. Es kann hier ziemlich einsam sein, und du bist mein Glück, mein Trost,
meine Freundin.»
    Diese eher
förmliche kleine Ansprache machte mich froh, doch ich erkannte in dem Anflug von
Feierlichkeit den allgegenwärtigen Druck der Zeit. Meine Mutter war alt. Sie könnte
morgen stürzen, oder es könnte ihr plötzlich etwas passieren. Sie könnte morgen
tot sein. Als wir uns an der Tür verabschiedeten, trug meine kleine Mutter einen
geblümten Baumwollschlafanzug. Die Hosenbeine bauschten sich um ihre schmalen Oberschenkel
und endeten direkt über den Höckern ihrer mageren Fußknöchel. Sie hielt eine graubraune
Wärmflasche im Arm.
    Daisy schrieb:
     
    Liebe Mom,
    ich habe Dad
zum Lunch getroffen, und er sah nicht besonders gut aus. Sein Hemd war voller Flecken,
er roch wie ein Aschenbecher und war nicht rasiert. Ich meine, ich weiß, dass er
oft einige Tage damit wartet, aber er sah aus, als hätte er sich eine Woche nicht
rasiert, oder noch schlimmer. Es schien mir, als habe er

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