Hustvedt, Siri
das Selbst sei zwar gewiss ein elastischer Begriff, Boris drücke aber
ganz präzise aus, was er meine — indem er nämlich von einem für ein Selbst notwendigen
biologischen Basissystem spreche. Meinem unsichtbaren Kameraden zufolge stellten
nicht nur Boris, sondern alle die falschen Fragen, mit Ausnahme von Niemand selbst,
dem einsamen Befürworter einer synthetischen Sicht, die alle Bereiche vereinen,
die Expertenkultur beenden und das Denken zu «Tanz und Spiel» zurückführen würde.
Ein utopischer Nihilist war er, ein utopischer Nihilist in einer manischen Phase.
Immer wieder dachte ich, dass er in Wirklichkeit eine ordentliche Abreibung brauchte.
Und doch, dachte ich, als ich verrückt war, war ich da ich selbst oder nicht? Wann
wird ein Mensch ein anderer?
Erinnerst Du Dich an jenen Abend vor zwei Jahren, schrieb ich
an Boris, als wir merkten, dass wir gerade haargenau
denselben Gedanken gehabt hatten, keineswegs einen offensichtlichen, eine eher exzentrische
Idee, die von einem gemeinsamen Katalysator hervorgerufen worden war, und Du zu
mir sagtest: «Wenn wir noch hundert Jahre zusammenlebten, würden wir ein
und dieselbe Person werden».''
Ton amie Mia
Als Alice nicht
im Kurs aufgetaucht war und ich um Auskunft gebeten hatte, hatten die Mädchen sich
dumm gestellt, oder zumindest nahm ich das an. Ich wusste nicht, ob das Gerücht
vom Krankenhaus stimmte, und es schien unsinnig, es so stehenzulassen, also begab
ich mich an die Quelle. Ich schaute bei Alice vorbei, ihre Mutter öffnete mir und
erzählte, Alice sei mit starken Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert worden,
die Ärzte hätten aber nichts gefunden und sie nach einer Reihe von Untersuchungen
am nächsten Tag wieder nach Hause geschickt. Als ich fragte, wie es ihrer Tochter
gehe, sagte sie, sie scheine keine Schmerzen zu haben, sei aber apathisch und bedrückt
und weigere sich, wieder in den Kurs zu gehen. Mit all dem Zartgefühl, das ich aufbringen
konnte, erwähnte ich, die Mädchen hätten von einem «Spaß» mit Alice gesprochen,
und das habe mich beunruhigt. Ich wolle gern mit Alice sprechen. Die Mutter war
entgegenkommend, sogar begierig, schien es mir, und ich vernahm in ihrer Stimme
diesen besonderen Ton mütterlicher Angst, die nicht auf Indizien, sondern auf einem
Gefühl beruht.
Alice war nicht
bereit, für mich aufzustehen. Ich wurde in ihr unnormal sauberes zartblaues Zimmer
geführt, wo sie auf ihrer zartblauen Tagesdecke mit weißen Kumuluswolken lag und
an die Decke starrte, die Arme über der Brust verschränkt wie ein für die Beerdigung
hergerichteter Leichnam. Ich zog einen Stuhl an ihr Bett, setzte mich und hörte,
wie ihre Mutter diskret die Tür hinter sich zuzog. Das Gesicht des Mädchens war
maskenhaft. Während ich zu ihr sprach, bewegte sie keinen Muskel. Ich sagte ihr,
wir hätten sie im Kurs vermisst, er sei ohne sie nicht mehr wie vorher, es tue mir
leid, dass sie krank gewesen sei, ich hoffte aber, sie werde bald zurückkommen,
sobald sie ganz wiederhergestellt sei.
Ohne mir den
Kopf zuzuwenden, sagte sie in Richtung Zimmerdecke: «Ich kann nicht zurückkommen.»
Nicht zu reden
kann genauso interessant sein wie reden, habe ich herausgefunden. Warum Sprechen,
diese kurze verbale Reise von innen nach außen, unter bestimmten Umständen so quälend
sein kann, ist faszinierend. Ich drängte sie freundlich, aber ich drängte eben.
Alice schüttelte immer nur den Kopf. Dann erwähnte ich den «Spaß», und ihr Gesicht
verzerrte sich vor Schmerz. Ihre Lippen verschwanden fast, weil sie sie nach innen
saugte, und aus jedem Auge sah ich eine Träne quellen. Da sie lag, fiel keine hinunter.
Vielmehr sanken sie in die Haut ihrer Wangen.
Wir verlassen
Alice mit ihren glänzenden Wangen auf ihrer bewölkten Tagesdecke. Wir gönnen uns
eine Ruhepause, denn obwohl ich leibhaftig dort sitzen blieb, verließ ich mindestens
eine halbe Stunde lang mich selbst. Ich unternahm eine geistige Wanderung. Es ist
nicht leicht, mit einer Dreizehnjährigen zu sprechen, die nicht mit dir sprechen
will oder, wenn sie doch mit dir sprechen will, für die wenigen kostbaren Äußerungen,
die das Geheimnis des Verbrechens lüften werden, trotzdem verhätschelt und umschmeichelt
und beschwatzt werden muss. Um ehrlich zu sein, es ist ein bisschen langweilig,
deshalb verzichten wir auf die lange und qualvolle Aufgabe, dem Kind die Worte
zu entreißen, und kehren zu ihm zurück, sobald es sie hervorgebracht hat.
Warum ich
Weitere Kostenlose Bücher