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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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des Hexenzirkels.
    Ashley fängt
an zu weinen.
    Alice beobachtet.
    Ellen beobachtet
Alice.
    Was Alice an
dieser Stelle denkt, wissen wir nicht, aber höchstwahrscheinlich verspürt sie eine
gewisse Genugtuung, dass die pubertierenden Hexen von Bonden bloßgestellt worden
sind. Gleichzeitig kann Alice sich nicht entziehen. Sie bleibt in der Stadt mit
den kleinen Teufelinnen, ihren Freundinnen.
    Kommentar: Die Werkzeuge der Finsternis erzählen uns Wahrheiten. Wie lauten sie? Jungs sind eben Jungs: wild und ungestüm, tretend, kopfüber
von Bäumen hängend. Aber sind Mädchen eben Mädchen? Sanft, nährend, süß, passiv,
hinterhältig, verschlagen, gemein?
    Im Bauch unserer
Mütter sind wir alle gleich. Wenn wir im Fruchtwassersee unseres frühesten Vergessens
schweben, haben wir alle Gonaden. Wenn das Y-Chromosom nicht urplötzlich auf die
Gonaden einiger von uns einwirkte und Hoden bildete, würden wir alle Frauen. In
der Biologie verläuft die Geschichte der Genesis umgekehrt: Adam wird zu Adam aus
Eva, nicht andersherum. Männer sind die metaphorischen Rippen von Frauen, nicht
Frauen die von Männern. Meistens ist es so: XX = Eierstöcke, XY = Hoden. Der angesehene
griechische Arzt Galen glaubte, die weiblichen Genitalien seien die Inversion der
männlichen und umgekehrt - eine Sicht, die jahrhundertelang Bestand hatte. «Wende
die der Frau nach außen, wende die des Mannes nach innen und falte sie doppelt,
so wirst du bei beiden in jeder Hinsicht das Gleiche finden.» Natürlich übertrumpfte
außen immer innen. Innen war eindeutig schlechter. Wieso eigentlich, kann ich nicht
sagen. Außen ist ziemlich empfindlich, wenn Sie mich fragen. Kastrationsangst leuchtet
durchaus ein. Trüge ich meine Fortpflanzungsorgane außen, wäre ich auch verdammt
nervös wegen dieses heiklen Päckchens. Wie der menschliche Nabel hatte das antike
Sexmodell Innis und Außis, was bedeutete, dass ein Inni einen damit überraschen
konnte, ein Außi zu werden, vor allem wenn man wie jemand herumlief, der schon einen
Außi hatte. Diese verborgene, umgeknickte Latte konnte sich also ganz plötzlich
ausstülpen. Montaigne, der allergrößte Literaturfürst des sechzehnten Jahrhunderts,
schloss sich der Inni/Außi-These an: «Männchen und Weibchen sind aus demselben Holz
geschnitzt, und bis auf Bildung und Brauch ist der Unterschied nicht groß.» Er gibt
eine wohlbekannte Geschichte von einem Marie-Germain wieder, der in Montaignes Version
bis zum Alter von zweiundzwanzig (in anderen Versionen fünfzehn) Jahren schlicht
eine Marie war, eines Tages aber, infolge einer anstrengenden Leibesübung (bei der
Schweinehatz über einen Graben springen), platzte die männliche Rute aus ihr hervor,
und Germain war geboren. Unglaublich, sagen Sie. Unmöglich, sagen Sie. Doch es gibt
eine bestimmte Familie in Puerto Rico und noch eine in Texas mit einem Gendefekt,
durch den XY für jedermann wie XX aussieht. Mit anderen Worten, der Phänotyp tarnt
bis zur Pubertät den Genotyp, und dann werden die kleinen Mädchen jählings zu kleinen
Jungen und wachsen zu Männern heran. Carla wird Carlos! Die geliebte Tochter wird
der geliebte Sohn, ohne ein chirurgisches Instrument weit und breit. Sicher ist
nur, dass in utero die Sache
mit der Geschlechterdifferenzierung anfällig ist. Die Dinge können völlig durcheinandergeraten,
und das tun sie auch.
    Mia, sagen
Sie, komm zur Sache. Entspannen Sie sich, atmen Sie durch, und ich werde Ihnen meine
rhetorische Wende bald servieren. Dies ist eine Frage von Gleichheit und Andersheit,
davon, was Sokrates im Staat einen «Wörterstreit»
nennt. Er sagt seinem Gesprächspartner Glaukon, sie befänden sich in einer «eristischen
Auseinandersetzung», weil sie sich nicht bemüßigt gefühlt hätten nachzufragen,
«was der Sinn von sei und was der Sinn von (gleiche Natur>,
und wohin wir mit unserer Definition zielten, wenn wir einer anderen Natur andere
Praktiken und der gleichen Natur die gleichen zuweisen würden». Der große Vater
der westlichen Philosophie tüftelt das Mann/Frau-Problem für seine Utopie aus und
stützt sich schließlich (mit Unbehagen, denke ich, aber dessen ungeachtet) auf Folgendes:
«Doch wenn der einzige Unterschied der ist, dass die Weibchen austragen und die
Männchen begatten, so werden wir dies nicht als triftigen Unterschied bei unserem
Behuf gelten lassen.» Der Behuf: ob Frauen dieselbe Erziehung genießen sollen wie
Männer und dann neben diesen im Staate

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