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Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Titel: Hymne der demokratischen Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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abließen, wie sie – diese betrunkenen dreißigjährigen Kapitäne, Bootsmänner und Matrosen – das Schiff des Lebens direkt auf Riffe und Unterwasserfelsen zusteuerten, im festen Glauben an die Riffe und daran, daß sie letztlich nicht untergehen würden. Kein Grund, an der Wahrhaftigkeit dessen, was Sie gesehen haben, zu zweifeln. Ich weiß, wer zuerst an der Wahrhaftigkeit dessen, was er gesehen hat, zweifelt; meistens Leute, die im Bildungssystem arbeiten. Oder Personen aus dem gesellschaftlichen Bereich. Die also wegen ihrer Berufstätigkeit keine Stammgäste sein können. Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Gespräche nach dem Frage-Antwort-Prinziphaben sich Leute einfallen lassen, die im Bildungssystem arbeiten, weil sie nämlich so den Erziehungsprozeß besser kontrollieren können. Und hier kann es einfach keine Berührungspunkte geben, denn der Erziehungsprozeß, im Gegensatz zum Prozeß der Erleuchtung, ist ja ein linearer Prozeß, und diese Linearität erschlägt einen. Man kann mir vorwerfen, daß ich keine Lust habe, Antworten auf direkte Fragen zu geben, man kann natürlich sagen, daß das nicht wirklich moralisch ist. Okay, verehrte Abonnenten, wie aber soll man mit einem Menschen über Moral sprechen, der jeden Tag Zeitung liest, Seite für Seite, Seite für Seite, und am Ende auch noch versucht, das Kreuzworträtsel zu lösen. Nicht mit mir, liebe Mitarbeiter des Bildungssystems, nicht mit mir, auch wenn sich das negativ auf die Auflage auswirkt.
    Die Kinder mit ihrem Klebstoff, die Professoren von der Technischen Universität, die hier den besten Teil des Semesters verbringen, die Frauen, die hier sterben, anstatt zu Hause zu sterben, die Taxifahrer, die rauchen, um nicht zu trinken, die Kriegshelden, die ihre Waffen verpfänden, die Taschendiebe, die hierherkommen, obwohl sie wissen, daß hier nichts zu holen ist, die Studenten, die ihre Professoren hinaus und ins Auditorium tragen, damit die Prüfungen stattfinden können, die Touristen, die aus Versehen hierhergeraten und nicht mehr wegwollen, die Spekulanten, die als erste in den Himmel kommen, damit es keinen Skandal gibt, die ganzen Straßenkriminellen, die wie kein anderer spüren, wo es am stärksten nach Leben riecht – sie haben große Lebenserfahrung, weil sie ein Geheimnis kennen, und dieses Geheimnis besteht darin, daß sie auf das Leben verzichten können, das Leben aber nicht auf sie.
    Wenn Sie, verehrte Hörer und Fernsehzuschauer, bis jetzt durchgehalten haben, hier ein Beispiel. Die Sache ist die, daß Sie das meiste, was Ihnen angeboten wird, in Wirklichkeit gar nicht interessiert. Außerdem bietet Ihnen in den meisten Fällen überhaupt niemand etwas an. Deshalb gibt es auch nichts zu bedauern. Und als Beispiel führe ich hier eine unglaublich lyrische Geschichte an, auf die man eigentlich auch verzichten könnte.
    Ich arbeite viel zuviel, erzählte mir Gabriel, viel zuviel. Meine Frau hat sich sogar von mir getrennt deswegen, ich hatte sie im Schlaf mit technischen Begriffen angeredet. Aber ich bedaure nichts. Ich kenne mein Fach in- und auswendig. Wenn ich könnte, ich würde den Krieg der Sterne drehen. Weil ich aber nicht kann, drehe ich den Polizeibericht. Gabriel arbeitete als Kameramann beim staatlichen Fernsehen. Außerdem nahm er private Aufträge an, er filmte sogar Hochzeiten, glaube ich, wobei er das weniger der Knete als der Liebe zur Kunst wegen machte. Manchmal wurde er geschickt, ein Fußballspiel zu filmen oder die aus den Charkiwer Flüssen gezogenen Leichen oder Pressekonferenzen des Bürgermeisters oder anderen Mist, wie er im Überfluß die Bildschirme füllt. Bürgermeister und Leichen kamen bei Gabriel sehr plastisch und überzeugend rüber, wofür seine Chefs ihn schätzten und die Kollegen ihn bewunderten, soweit das in unseren Zeiten überhaupt möglich ist. Aber nicht der Bürgermeister und nicht einmal die Leichen konnten seinen künstlerischen Ehrgeiz voll befriedigen, und das war verständlich. Denn vom ersten Tag an, kaum daß er eine Kamera angefaßt hatte, wollte er Filme drehen, und weder der Bürgermeister noch die Leichen konnten dagenügen. Er hatte Hunderte von Freunden in der ganzen Stadt, in der Kantine von Gosprom konnte er seine Getränke anschreiben lassen, er kannte alle, vom Bürgermeister bis zu den Spielern von »Metallist«, die bei ihm nicht weniger plastisch rüberkamen als die Leichen, wenn auch nicht ganz so überzeugend.
    Eines Tages also schlug ihm unser

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