Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
wir uns immer stärker in ihrem Morast und in ihren Schlingen verfangen, uns immer weiter voneinanderentfernen und jegliche Verbindung zueinander verlieren, wir verschwinden im endlosen Weltall, wir verpfuschen uns selbst das Leben, die Gesundheit und die Nerven und bringen uns selbst um Glauben und Hoffnung, kurz gesagt, die Nachrichten waren alarmierend. Die weißrussische Nutte fand man bezeichnenderweise nicht im Bus, niemand wußte, wohin sie verschwunden war, nicht einmal die Zigeuner in Chelm wußten es, obwohl die doch sonst alles wußten. Mein Kommilitone mußte also allein für alles geradestehen. Man legte ihm die wiederholte Nutzung gefälschter Papiere und gesetzwidrigen Handel mit vietnamesischen Fernsehern ohne Bildröhren und Lizenz zur Last, nachweisen aber konnte man ihm nur das Lenken eines Fahrzeugs in alkoholisiertem Zustand. Im Gefängnis ließ er sich auf der rechten Schulter eine Tätowierung machen – ein trauriges Frauengesicht mit langem lockigem Haar. Die tätowierte Stelle blutete. Ein Arzt wurde gerufen. Der betrachtete die Tätowierung angeekelt. Nach einigen Monaten wurde mein Kommilitone freigelassen. Er kehrte nach Chelm zurück, suchte die Zigeuner und blieb bei ihnen, geklaute Autos an die Russen verticken. Seine ehemalige Freundin, auch das ist typisch, ließ sich bald scheiden, besser gesagt, sie ließ sich nicht einmal scheiden, ihr Italiener wurde nach einem Fußballspiel von Skinheads verprügelt, sie schlugen ihm den Schädel mit einem Stahlrohr ein, und er starb, ohne daß er noch einmal zu Bewußtsein gekommen war. Allein mit ihrem Kind beschloß sie, das Sprachstudium aufzugeben, und suchte sich eine Stelle in einem türkischen Fast food am Alexanderplatz. Die Türken nahmen sie gern – im Unterschied zu ihnen war sie der Sprache mächtig. Meinen Kommilitonen hat sie, soweit ich weiß, nie wiedergesehen.
Was ist charakteristisch für eine Liebesgeschichte? Vielleicht die Tatsache, daß der Mensch, wenn er wirklich verliebt ist, keine Hilfe von außen braucht. Er braucht überhaupt keine günstigen Umstände, keine fremde Hilfe, es ist ihm egal, wie es um die Welt bestellt ist, wie sich die Ereignisse um ihn herum entwickeln, wie wohlwollend ihm die Heiligen gesinnt und wie günstig Sterne und Planeten aufgestellt sind; ein verliebter Mensch ist erfüllt von seiner Leidenschaft, er läßt sich ausschließlich von seinem subkutanen Wahn leiten, von seinem Herz, seiner Seele und seinen inneren Organen, sie lassen ihm keine Ruhe, keine Rast, sie zermürben ihn mit tagtäglicher unendlicher Passion – tief wie ein Brunnen, schwarz wie frisches Erdöl, süß wie der Tod im Schlaf um fünf Uhr morgens in einem alten VW an der polnisch-deutschen Grenze.
Laß den Priester nur reden, das Lustigste kommt zum Schluß
Also, verehrte Hörer, Fernsehzuschauer, erfahrene Abonnenten, wie angekündigt bleibt unser Haus seinen Traditionen treu und ist für Sie da an diesem langen Sommerabend, in dieser halb leeren, halb toten Stadt, in der Sie das Glück haben festzusitzen, die Lichter sind entzündet, die Platten aufgelegt, und alle Mitarbeiter – vom jüngsten Boten bis zur erfahrensten Nutte – sitzen unter den schweren, trägen Ventilatoren, die an der Decke ihre Flügel drehen, sie sitzen und erleben gemeinsam mit Ihnen diese süße, erregende Vorahnung von Fest und Abenteuer, das in den alten Bordellen und Spelunken dieser Stadt lauert; ein breitgefächertes Angebot an Freuden und Depressiva für alle, die bis zum Wochenende durchgehalten und dabei ihren Humor nicht verloren haben, denn Humor, verehrte Zuschauer, brauchen Sie in diesen Fluren und Speichern, wo Haß und Unsicherheit fast ganz verschwunden sind, wo diese Gefühle schon lange erfolgreich durch die Sozialversicherung ersetzt wurden, ohne Humor halten Sie einfach nicht bis zum Ende der Vorstellung durch, für die Sie ja übrigens sauer verdientes Geld bezahlt haben, ohne Humor ist hier überhaupt nichts zu machen, in diesem gemütlichen Saal, wo sich Ihnen in den nächsten paar Stunden eine Geschichte von unerhörter Leidenschaft und nie gesehenem Verrat darbieten wird, wo Ihnen die toten Körper der Liebenden vor die Füße fallen und der ehrliche Schweiß und das heiße Blut der Statisten so natürlichvergossen werden, daß Sie alles andere auf der Welt vergessen, Ihre eigene Skepsis werden Sie vergessen und den Preis der Eintrittskarten, der ja übrigens gar nicht so hoch ist angesichts des flimmernden Wahnsinns,
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