Hypnose
erinnerst dich, meine Frau, oder besser gesagt meine Verlobte, ist an einer zu spät er kannten Schwangerschaftsvergiftung gestorben und mit ihr unser ungeborenes drittes Kind. Das war 1981. Es wäre ein Junge geworden …«
Je weiter Brunner gedanklich in die Vergangenheit zurückging, desto weniger merkte Inka noch von seiner Krankheit. Seine Stimme klang nicht mehr ganz so schleppend, und seine Aussagen waren sortierter. Im Grunde wirkte er ganz gesund, aber das war natürlich eine Täuschung, wie Evelyn ihr schon erklärt hatte. Mit vielen Schizophreniekranken konnte man sich entgegen der landläufigen Meinung völlig normal unterhalten, nicht selten würde man die Krankheit im ersten Moment gar nicht bemerken; bizarr wurde es erst, sobald die Schizophrenen ihr Gegenüber an ihrer Wahnwelt teilhaben ließen.
»Und von da an war ich plötzlich mit meinen beiden Mädchen allein«, erzählte Brunner weiter. »Aber weißt du, nach der ersten, alles überwältigenden Trauer habe ich aus meinem Schmerz heraus eine ungeheure Lebenskraft entwickelt. Ich habe mich mit der menschlichen Seele beschäftigt und vormittags, wenn die Mädchen in der Schule waren, Psychologievorlesungen an der Uni gehört und nachts an meiner Doktorarbeit geschrieben. Trotz allem habe ich meinen Abschluss in Rekordzeit und mit Summa cum laude geschafft. Nach ein paar Jahren als Arzt in verschiedenen Psychiatrischen Kliniken im Großraum Stuttgart habe ich mich alternativen Behandlungsformen zugewandt und die klinische Hypnose als Therapiefeld für mich entdeckt. Gelernt habe ich beim Meister dieses Fachs: Milton Erickson. Damals waren wir noch Exoten, aber in den vergangenen zehn Jahren habe ich meine Privatklinik zum Erfolg geführt. Und jetzt hat sie sich mein sauberer Herr Schwiegersohn unter den Nagel gerissen. Und vor ihm muss ich dich warnen.«
Der letzte Satz saß. Wie ein Pfeil traf er sie. Er warnte sie vor Brinkhu s !
»Weißt du, Inka, für Annabel und Evelyn bin ich ein verrückter alter Mann. Aber ich dachte, wenigstens du würdest mich ernst nehmen. Du erinnerst mich sehr an meine Frau. Sie hatte ein ähnlich burschikoses Auftreten wie du, war schlank, hatte kurze blonde Haare und einen intelligenten Dickkopf. Sie ließ sich nicht täuschen und war selbst eine durch und durch ehrliche Haut. Was man von dir nicht behaupten kann.«
»Aber ich bin doch ehrlich, Herr Brunner.«
»Nein, du lügst mich an, wie meine Tochter.« Er stand auf und schlurfte zu seinem Nachtkästchen, wo er mit einem Ruck die Schublade aufzog. Er kam mit der Stuttgart aktuell zurück und knallte ihr die Zeitung auf den Tisch. »Glaubt ihr denn wirklich, ich würde hier drin nichts mitbekommen? Von wegen Geburtstagsfeier, das ist ja lächerlich!«
Inka fühlte sich wie ein Kind ertappt und überflog den Ar tikel mit der Überschrift Mord im Herzen Stuttgarts . »Ich wusste nicht … ich dachte … wir wollten …«, stammelte sie.
Brunner ging weder auf den Mord am Freund seiner jüngeren Tochter noch auf ihren Entschuldigungsversuch weiter ein. Er setzte sich wieder an den Tisch. »Mit Hypnose kann man auch Missbrauch betreiben. Wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du dich von meinem Schwiegersohn fernhalten. Er ist ein sehr ehrgeiziger Mensch.«
Inka musste schlucken, ihre Kehle war trocken geworden. »Was meinen Sie damit genau?«
»Experimente. Er macht Experimente unter Hypnose. Unter heutigen anerkannten wissenschaftlichen Bedingungen sind es Wiederholungen der Experimente aus dem 19. Jahrhundert. Wie war das noch gleich: Eine Frau, die unter Hypnose dem Befehl folgt, einen ihr völlig fremden Mann zu erstechen. Ein Glück nur, dass es ein Gummidolch war. Oder der andere Fall, bei dem eine Frau auf hypnotischen Befehl hin bereitwillig Arsen ins Essen ihres Opfers streut. Hätte es sich nicht um Zucker gehandelt, wäre dieses Experiment tödlich ausgegangen.«
Inka spürte regelrecht, wie in ihrem Kopf ein Neuronenfeuer einsetzte. »Sie meinen, nachdem Annabel in Hypnosetherapie bei Ihrem Schwiegersohn war – dass sie unter Hypnose den Befehl zum Mord erhalten hat? Aber dagegen spricht, dass sie das letzte Mal vor geraumer Zeit dort in Behandlung war. Da hätte der Mord längst passieren müssen.«
Brunner beugte sich zu ihr vor. »Es wäre möglich, dass er sich den Vorteil einer posthypnotischen Suggestion zunutze gemacht hat.«
»Das heißt?«
»Normalerweise erleichtert man dem Patienten dadurch den Weg zurück in den Alltag. Hat
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