Hypnose
Anblick ist verkraftbar, glauben Sie mir. Nach der Obduktion werden alle Organteile wieder in den Körper gelegt, und auch die Schädelöffnung wird vernäht. Wir erweisen den Toten allen nur möglichen Respekt, auch wenn wir durch unser Eingreifen als Leichenfledderer verschrien sind.« Zielstrebig ging Professor Hagedorn bei der aus drei Etagen bestehenden Kühlanlage auf das Fach mit der Nummer acht in der mittleren Reihe zu und zog die Bahre heraus. Inkas Nacken versteifte sich.
»Jannis Zioglanidios«, sagte er in einem Tonfall, als ob er Inka einen Lebenden vorstellen wollen würde.
Dann stutzte er. Die Bahre war leer.
»Ach so, dann hat der Bestatter ihn doch noch vor dem Wochenende abgeholt. Tut mir leid, da hat es mein Kollege versäumt, mich zu informieren. Ist viel zu tun gerade«, sagte Hagedorn.
»Sind Sie sicher, dass Jannis in diesem Fach lag?«
Bevor der Professor antworten konnte, hörte sie vom Flur her jemanden nach Professor Hagedorn rufen.
»Das ist mein Kollege. Warten Sie, Frau Mayer, ich frage ihn gleich, ob die Leiche vorhin abgeholt wurde oder ob ich mich tatsächlich mit der Fachnummer vertan habe, was mir allerdings in zehn Jahren noch nicht passiert wäre! Ich bin sofort wieder da …«
Inka atmete tief durch. Sie sah auf die Kühlfächer, und ihre Journalistennase witterte die Möglichkeit, selbst in allen Etagen nachzusehen, aber das wäre zu riskant. Außerdem fühlte sie sich so elend, dass sie sich gar nicht vom Fleck rühren konnte.
Da hörte sie hinter sich ein Geräusch und vermutete, Professor Hagedorn würde wieder zurückkommen. Aber ihr blieb nicht einmal die Zeit sich umzudrehen.
Jemand packte sie von hinten und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Vor Schreck atmete sie tief ein. Ein widerlich süßer Geruch – Äther? Sie wusste, wohin das führen würde, und wehrte sich heftig atmend. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass genau das der falsche Weg war …
Es war dunkel um sie herum. Stockdunkel. Und es stank bestialisch. Die bleierne Müdigkeit löste sich nur langsam von ihr, sie hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und fror erbärmlich. Unter sich spürte sie etwas Metallisches. Ich liege auf einer Bahre, schoss es ihr durch den Kopf. Sie streckte vorsichtig den Arm aus, um sich zu orientieren, stieß aber eine knappe Armlänge über ihrem Kopf gegen eine Metallplatte, zur Seite hin war keine direkte Begrenzung. Ihre rechte Hand stieß dort allerdings auf einen gefüllten Plastiksack; mit ihrem linken Arm traf sie ebenfalls auf etwas Unebenes, Kühles. Das war kein Gegenstand, das war … Haut . Die Haut einer Leiche.
Inka stieß einen Schrei aus. Sie befand sich im Inneren des Leichenkühlfaches, vor dem sie gerade eben noch gestanden hatte! Was von außen wie voneinander abgeteilte Schubfächer gewirkt hatte, entpuppte sich im Inneren als eine einzige große Kammer, in der neben, unter und über ihr Leichen lagen. Ein Albtraum! Raus hier, raus! Wie von Sinnen hämmerte sie gegen die Metallplatte über ihrem Kopf. »Hilfe!«, brüllte sie. »Hilfe!« Durch das Schreien musste sie tief einatmen und würgte. Nur weil Inka sich auf ihre Befreiung konzentrierte, verhinderte sie, dass sie erbrechen musste. Jemand musste sie doch hören! Bei dieser Kälte würde sie erfrieren!
Sie setzte sich mühsam auf, schaffte es, sich zu drehen und nach einem Ausstieg zu suchen, der sich von innen öffnen ließ. Das musste doch möglich sein – schließlich musste man immer mit einem Scheintoten rechnen, der fälschlicherweise zur Obduktion angeliefert worden war. Wie gut, dass sie wenigstens nicht unter Platzangst litt.
Metall, überall nur kaltes Metall und keine Öffnung. Sie hämmerte, trommelte und schlug, bis ihre Hände schmerzhaft brannten. Wieder musste sie würgen. Diesen Geruch würde sie in ihrem Leben nie mehr vergessen.
Da öffnete sich die Luke. Endlich Licht!
Dem Himmel sei Dank, sie wurde befreit, erlöst. Sie war wieder im Licht, in der Wärme. Inka rutschte von der Bahre. Sie zitterte und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Man hat mich hier eingesperrt! Ich wurde betäubt. Sie müssen die Person suchen!«
Der Mann vor ihr runzelte die Stirn. Das war nicht Professor Hagedorn. Zwar trug er ebenso blaue, allerdings saubere Sektionskleidung, eine Haube, Mundschutz und La texhandschuhe, und dieser Mann war wesentlich größer. In der einen Hand hielt er ein Skalpell und in der anderen ein Tuch. Sein Blick machte ihr Angst. Diese Augen …
»Die Person
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