Hypnose
anzukämpfen. Atmen Sie lieber ein paarmal tief ein. Dann gewöhnt sich die Nase schneller daran.«
Allein beim Gedanken daran wurde Inka übel. Alles in ihr sträubte sich auf einmal dagegen, Jannis gleich so daliegen sehen zu müssen, denn das bedeutete auch, dass sie mit eigenen Augen den Tod ihres lebenslustigen, liebenswerten Freundes bestätigte. Aber genau deshalb war sie ja hier. Sie wollte der Wahrheit ins Gesicht schauen, auch wenn sie dann akzeptieren musste, dass Annabel den Verstand verloren hatte – genau wie ihr Vater – und eine Mörderin war.
»Ah, da ist ja schon Professor Hagedorn«, sagte die Sekretärin mit den rehbraunen Augen und blieb vor einem großen Fenster stehen, das einer Trennscheibe zu einem Operationssaal ähnelte. »Wir kommen leider ein bisschen zu spät – die Obduktion hat schon angefangen. Aber der Herr Professor wird Sie sicher gleich dazubitten.«
»Aber ich …«, versuchte Inka den Irrtum aufzuklären und auf den Grund ihres Kommens hinzuweisen.
»Warten Sie einfach hier vor der Scheibe. Ich muss jetzt zurück an den Schreibtisch, es sind schon wieder ein paar Anrufe wegen angeblich dringender Obduktionen reingekommen … Aber irgendwann haben wir auch mal Feierabend«, sagte sie lächelnd und ließ Inka allein.
Was sollte Inka jetzt tun? Der Sekretärin nachlaufen und die Lage klären? Ihr Blick fiel zurück zu Professor Hagedorn.
Im Sektionssaal herrschte die gleiche Betriebsamkeit wie in einem Operationssaal. Mit grünen Kitteln und Mundschutz bekleidet stand ein weiterer Rechtsmediziner neben Professor Hagedorn und um den Sektionstisch herum deren Assistenten, in zweiter Reihe offenkundig noch ein paar Medizinstudenten, deren Gesichtsausdrücke die gesamte Bandbreite von Ekel bis Neugierde abdeckten. Von der Leiche selbst zwischen all den Leuten konnte Inka nur sehr schlanke Beine mit blaubräunlich verfärbten Hautarealen erkennen, die der zweite Rechtsmediziner Zentimeter um Zentimeter abtastete. Auf einem weiteren Sektionstisch lag die schmutzige und wassergetränkte Bekleidung des Toten. Von einer Klappleiter herunter schoss ein kriminalpolizeilicher Fotograf seine Bilder. Dieses Vorgehen kannte sie aus Peters Erzählungen.
Professor Hagedorn trat zur Seite und wechselte ein paar Worte mit dem ermittelnden Kommissar, der neben der Leiter stand, und kam dann mit einem Kopfnicken auf Inka zu. Er streifte seine langen Gummihandschuhe ab und öffnete die Tür.
Im Sektionssaal war es trotz der Geschäftigkeit still, jeder ging seiner Aufgabe nach, und nur hin und wieder wurden ein paar Worte gewechselt. Gerade als Professor Hagedorn zur Begrüßung ansetzte, durchbrach das Kreischen einer Säge die Stille. Er blickte zurück und beobachtete den Vorgang. Als Bewegung um den Sektionstisch herum entstand, bekam sie unfreiwillig Sicht auf einen kleinen, schmalen Körper, bei dem die Haut an Händen und Füßen aufgequollen war und stellenweise in weißlichen Fetzen herunterhing. Der Schock kam, als ihr klar wurde, dass sie nicht nur eine Wasserleiche vor sich hatte, sondern dass es der leblose Körper eines etwa zwölfjährigen Kindes war.
Der Assistent setzte mit der elektrischen Handsäge den Y-Schnitt in den Brustkorb – auch das hatte ihr Peter mal erzählt. Danach war es wieder still – bis auf ein mehrfaches leises Knacken, als die Rippen mit der Rippenschere gebrochen und der Brustkorb geöffnet wurde. Der entweichende Fäulnisgeruch war mit Worten nicht zu beschreiben.
Professor Hagedorn schloss die Tür hinter sich und sag te etwas von fraglich, ob Unfall oder Ermordung , aber sie konnte seine weiteren Worte nicht mehr aufnehmen. Sie starrte auf die Leiche des Jungen. Unmöglich, ihre Augen davon abzuwenden. Ihr eigener Wille gehorchte ihr nicht mehr.
Mit sanftem Druck spürte sie Professor Hagedorns Hände an ihren Schultern, die sie zwangen, sich abzuwenden, und sie ein paar Schritte Richtung Flur dirigierten. »Solche Dinge sollten Sie nicht sehen«, sagte er. »Die Obduktion kam als dringender Fall herein. Ich zeige Ihnen kurz wie versprochen die Leiche von Jannis Zioglanidios, und dann muss ich auch schon wieder in den Sektionssaal zurück.«
Es fühlte sich an, als ob Watte in ihrem Kopf wäre. Sie betraten einen gekachelten Raum, und als sie vor der Wand mit den Leichenkühlfächern standen, hatte Inka das Gefühl, ihr Herz würde stillstehen wie in den Körpern der Toten.
»Ich … ich kann nicht«, wisperte sie und wandte sich ab.
»Der
Weitere Kostenlose Bücher