I love you, honey
Seitengasse, in der von hohen Mauern umgebene Häuser stehen. Keine Menschenseele ist zu sehen. Jetzt hat der Mann mich erreicht und greift nach meiner Tasche. Dieses Mal reagiere ich aber nicht ängstlich, sondern wütend. Ich schlage ihm die Plastiktüte mit den Einkäufen ins Gesicht, um ihn abzuwehren. Niemand nimmt mir mehr meine Sachen weg! Der Räuber reagiert verdutzt und zögert einen Moment; mit Gegenwehr hat er nicht gerechnet. Dann aber zieht er ein Messer und in mir steigt Panik auf. Eingeschüchtert überlasse ich ihm jetzt das Objekt der Begierde. Er rennt schnell mit seiner Beute davon und kann ungehindert entkommen. Inzwischen haben die Anwohner gemerkt, was mir zugestoßen ist. Sie bringen mich zu meiner Wohnung und mehrere Frauen bieten mir an, in ihr Haus zu kommen, damit ich mich beruhigen kann. Das ist eine nette Geste, aber ich möchte jetzt nicht in Gesellschaft fremder Leute sein. Ich werde nie mehr so unvorsichtig sein und eine Tasche bei mir tragen. Das schwöre ich mir. In Zukunft werde ich auch nur noch mit etwas Kleingeld unterwegs sein und kleine Einkäufe tätigen. Ich habe meine Lektion endgültig gelernt.
Absturz
Nach diesem Erlebnis ist für mich nichts mehr wie früher. Ich fühle mich nicht mehr sicher in den Straßen. Wenn mir ein bedrohlich wirkender Mann entgegenkommt, mache ich sofort einen großen Bogen um ihn. Auch verspüre ich immer öfter den Drang mich umzudrehen, obwohl nur ein gewöhnlicher Fußgänger hinter mir her läuft. Meine Reaktion ist übertrieben, aber anscheinend hat der bewaffnete Raubüberfall ein Trauma bei mir ausgelöst. Nachdem ich einem Laden um die Ecke eingekauft habe, bekomme ich auf dem Rückweg das Gefühl, von einem Halbwüchsigen auf der anderen Straßenseite angestarrt zu werden. Sofort bekomme ich Angst und nehme ein Taxi, obwohl meine Wohnung nur fünf Minuten entfernt liegt. So kann es nicht weitergehen! Auch in meiner Wohnung liege ich nachts wach und höre auf jedes Geräusch. Bewegt sich da etwas im Garten? Ich werde immer ängstlicher. Meine Wohnung ist mein Gefängnis geworden, ich traue mich fast gar nicht mehr auf die Straße. Ich bin froh, wenn ich die Haltestelle vom Taxi erreicht habe und mich ins Auto setzen kann. Es ist nur eine Phase, beruhige ich mich selbst und zwinge mich, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Kamal ist für mich da, wenn ich ihn brauche, aber er kann mir auch nicht die Furcht nehmen. Anfangs begleitet er mich zum Einkaufen, aber bald hat er keine Lust mehr dazu. Ich verstehe ihn; ich finde mein Verhalten auch etwas merkwürdig.
Ich spreche mit meiner Mutter über meine Gefühle bei unserer Skype-Verabredung: ,,Dir ist etwas Schlimmes zugestoßen, akzeptiere doch deine Gefühle so wie sie jetzt sind. Ich glaube, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis du dich wieder besser fühlst“, versucht mich meine Mutter aufzumuntern. Es wäre schön, wenn ich meine einstige Leichtigkeit wiederfinden würde. Ich bin doch früher immer so gerne zwischen den Menschen umhergelaufen und habe mich so wohl dabei gefühlt. War ich etwa zu naiv gewesen?
Im Moment stört mich einfach alles: Die ewige Sonne, die Hitze, das Ungeziefer, das kalte Wasser, die durchwachten Nächte und die Eskapaden von Kamal. Ich könnte die Liste noch endlos fortführen. Das ist der Anfang vom Ende, denke ich.
Nachts spreche ich mit Kamal über das Café. Wir verdienen schon lange nicht mehr genug damit. Fast jeden Monat borgt mir meine Mutter etwas. Er sieht ein, dass das Café als Einnahmequelle nicht mehr geeignet ist. Ich erzähle ihm, dass mir alles inzwischen über den Kopf wächst und ich in Erwägung ziehe, nach Deutschland zurückzukehren. Ungläubig guckt er mich an .,, No, honey, no“, ruft er erschrocken, ,, never, you belong to me.“ Er hat Recht, ich gehöre zu ihm und das wird auch immer so bleiben, egal wie viele Kilometer uns trennen. Aber bei ihm kann ich nicht mehr bleiben, das spüre ich genau. Die Zeit ist für mich hier abgelaufen.
In letzter Zeit trinkt Kamal sehr viel und es ist kein annährend gutes Gespräch mehr mit ihm möglich. Meistens hält er endlose Monologe und zerfließt vor Selbstmitleid. Ich habe es aufgegeben, eine vernünftige Unterhaltung mit ihm führen zu wollen.
Deshalb bin ich froh und erstaunt, dass er jetzt mit mir über unsere Problematik spricht. ,,We can marry and then
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