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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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Willis Reed, und ging gern in ihr Büro. Sie arbeitete als Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei. Das Büro befand sich in einem Wolkenkratzer in der Stadt, im siebzehnten Stock, und durch die großen Fenster hatte man einen wunderschönen Blick auf den East River und auf Queens. Jack ging immer gleich zum Fenster und drückte die Nase gegen die Scheibe. Er streckte die Arme aus, so hoch er konnte, spreizte die Beine ein wenig, drückte sich, so fest es ging, gegen die Fensterscheibe und stellte sich vor, daß er flöge. Früher in diesem Jahr hatte Miß Roebuck der Klasse etwas über griechische Mythologie erzählt. Jacks Lieblingsgeschichte war die von Daedalus und Icarus. Er ging sogar in die Bibliothek und schaute in mehreren Büchern nach und las alles, was er fand, über den Jungen, der es gewagt hatte, zu nahe an die Sonne zu fliegen. Jack gefiel die Idee, Flügel zu basteln und damit immer höher in den Himmel zu steigen. Er dachte fast jeden Tag daran, stellte sich vor, er wäre Icarus, ließe die Erde hinter sich und flöge höher, als jemals einer geflogen war. Meistens dachte er nur an dieses herrliche Gefühl, und er konnte sich selbst so deutlich sehen, daß es für ihn real wurde. Er konnte spüren, wie die Luft an seinem Körper vorbeiströmte, er konnte sich in die Stille des Fluges und in den Reiz der außerordentlichen Freiheit hineinversenken. Aber manchmal wagte er auch an den Sturz zu denken. Wie Icarus würde auch er zu hoch steigen, und seine Flügel würden schmelzen, und dann konnte Jack in seiner Magengrube das Gefühl des Abstürzens, des geradewegs nach unten Fallens, spüren, und die Angst, die ihn dann überfiel, riß ihn aus seiner Phantasie, und er fand sich in seinem Zimmer oder in der Klasse wieder, mit zitternden Händen, trockenem Mund, die Finger um das geklammert, was er gerade hatte greifen können, als wäre es ein Rettungsanker, der ihn sicher mit dem Erdboden verband.
    Aber oben im Büro seiner Mutter, die Arme hoch erhoben, hatte er nie Angst. Dort gab es nur kühles Fensterglas an seinem Körper. Und er konnte der glorreiche Icarus sein und flog hinaus über den Fluß, über die ganze Stadt. Und er schaute auf die Welt hinunter und schwang sich der Sonne entgegen …
    Jack beendete schnell seine Hausaufgaben, nichts allzu Schweres, hauptsächlich Mathe, und zog sich um – Jeans, Turnschuhe, das graues Knicks-Shirt und die blauorangefarbene Knicks-Jacke. Dann trat er hinaus auf den Treppenabsatz vor dem Haus, um darauf zu warten, daß Dom ihn abholte. Während er auf dem rauhen Beton saß, überlegte er, was seine Mom ihm wohl erzählen würde und ob die Knicks an diesem Abend gewinnen würden. Er dachte auch noch ein wenig über seinen Dad nach. Am meisten aber überlegte er, wie viele Hotdogs er wohl schaffen könnte. Er nahm sich vor, heute einen neuen Rekord aufzustellen.
    Joanie Keller war nervös.
    Sie verstand es nicht ganz. Sie wußte, weswegen sie nervös war, aber nicht genau, warum .
    Vielleicht, weil sich Joan Keller mehr als alles andere in ihrem Leben wünschte, daß ihr Sohn glücklich war, und sie nicht sagen konnte, ob das, was sie ihm erzählen, ihn auch wirklich glücklich machen würde. Wenn nicht, hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte. Auf jeden Fall die Pläne weiter verfolgen? Sie wußte nicht, ob sie dazu imstande wäre. Die Pläne nicht weiter verfolgen? Ob sie das könnte, wußte sie auch nicht. O Gott! Wenn sie so darüber nachdachte, glaubte sie zu wissen, weshalb sie nervös war.
    Sie wollte aber im Augenblick nicht darüber nachdenken, ihr ging sowieso seit Tagen nichts anderes durch den Kopf. Daher entschied sie, sich zu beschäftigen und ihre Ablage – eine langweilige, mühselige Arbeit – auf Vordermann zu bringen. Aber es dauerte nicht lange, und sie saß stirnrunzelnd da, und ihre Lippen bewegten sich, und sie probte, was genau sie sagen würde. Das ist verrückt, wurde ihr klar. Er ist zehn Jahre alt, und er ist ein tolles Kind. Warum also sollte er sich über die Neuigkeit nicht freuen? Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, der dagegen sprach. Überhaupt keinen. Also erzähl’s ihm und umarme ihn und gib ihm einen Kuß und hoffe, daß er dich ebenfalls umarmt und küßt. Natürlich würde er. Genau das würde er tun. Warum also sollte sie nervös sein? Nicht mehr lange, und sie würden einander umarmen und küssen und lauthals lachen.
    Sie blickte auf die Uhr. Es war 17:14. Jeden Moment würde Gerald Aarons, einer ihrer drei

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