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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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versuchte wegzurennen. Der Junge war schnell, aber Reggie war schneller, und er packte ihn, hielt ihn am Handgelenk fest, so daß er sich nicht rühren konnte. Reggie schüttelte den Kopf, damit der Junge sehen konnte, daß er vor nichts Angst haben mußte, doch der Kleine hörte nicht auf zu zittern. Und jetzt weinte er. Aber es war kein normales Weinen, es waren lange, erstickte Schluchzer. Es waren Laute, wie ein Tier sie machte. Ein Tier im Wald, in einer Falle, das schrie, damit man es freiließ. Das schrie, weil es wußte, daß es sterben würde.
    Reggie versuchte, den Jungen mit seinen Gedanken zum Schweigen zu bringen. Die Laute waren furchtbar. Immer und immer wieder bohrten sie sich in Reggies Hirn, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Bis er sie zum Verstummen bringen mußte. Es machte ihn verrückt. Daher hatte er keine andere Wahl, als sie zu beenden.
    Er fragte sich, was mit der Frau passiert war. Er erinnerte sich, sie gesehen zu haben, als er aus dem Fahrstuhl trat. Als er sich ihr näherte, war er überzeugt, sie zu erkennen. Er wußte, daß es nicht sein konnte, es war unmöglich, aber er sah sie mit seinen eigenen Augen, daher mußte es stimmen, denn er war nicht mehr verrückt. Er war sicher, daß es die Frau auf der Straße war, die er angeblich schwer verletzt hatte. Aber sie konnte es nicht sein. Die Frau damals hatte blondes Haar gehabt, und diese hier hatte schwarzes Haar. Und wie hatte sie ihr Auge zurückbekommen? Die Frau von der Straße hatte jetzt nur noch ein Auge, und diese hier hatte zwei. Zwei große, runde, braune Augen, die ihn direkt anstarrten.
    In diesem Moment begriff er es: Die Anwälte, sie hatten schon wieder gelogen. Sie hatte gar kein Auge verloren! Wahrscheinlich war sie auch nie verletzt worden! Sie hatten sich diese Geschichte ausgedacht, genauso wie sie sich ausgedacht hatten, daß er verrückt war. Sie hatten alles nur erfunden, damit sie ihn bestrafen und ins Irrenhaus stecken konnten. Er hatte es immer gewußt! Es war alles nur eine einzige große Lüge!
    Und jetzt war es zu schön, um wahr zu sein. Hier war er, und dort war sie. Bei den verdammten, verlogenen Anwälten!
    Nun, da gab es nur eins zu tun, nicht wahr?
    Sie hatte versucht, ihn zu verletzen. Sie hatte ihn verletzt.
    Also mußte er sie seinerseits verletzen.
    Nur konnte er sie nicht verletzen, weil sie auf einmal weg war.
    Da war nur der Junge. Der entsetzte, weinende Junge.
    Vielleicht sollte er ihn in den Arm nehmen, dachte Reggie. In den Arm nehmen und ihm sagen, er solle aufhören zu weinen, weil alles gut würde.
    Es sei denn, natürlich, er hörte nicht auf zu weinen. Dann wäre alles nicht mehr gut. Dann würde er dafür sorgen, daß er still war.
    Das müßte er, nicht wahr? Welche andere Wahl blieb ihm?
    Jack war entsetzt, als er feststellte, daß er weinte. Er konnte gar nicht aufhören. Seine Mutter war tot, und er hatte ihr nicht geholfen, und der Mann streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn hochheben, so wie er seine Mutter hochgehoben hatte. Jack wollte nicht weinen, nicht jetzt, aber Tränen waren alles, wozu er fähig war. Er spürte, wie die Finger des Mannes sich um sein Handgelenk und dann um seine Schultern legten, und der Hautkontakt erfüllte ihn mit Abscheu. Die Hände des Mannes versengten ihn wie ein Brandeisen, und ohne nachzudenken, was er tat, warf Jack sich gegen eines der Beine des Mannes, umklammerte es mit aller Kraft. Auf keinen Fall wollte er loslassen. Der Mann versuchte ihn abzuschütteln, aber das schaffte er nicht, denn Jack hielt sich fest, als hinge sein Leben davon ab, und wenn es sein mußte, würde er sich für immer und ewig festklammern, denn wenn er es nicht tat, würde der Mann ihn ebenfalls aus dem Fenster werfen. So nahe bei ihm war der Geruch des Mannes noch schlimmer, er füllte Jacks Nase und verursachte ihmÜbelkeit. Der Mann schüttelte ihn jetzt noch heftiger und zerrte an Jacks Haaren, riß seinen Kopf nach hinten, aber Jack gab ihn nicht frei. Der Mann konnte nichts tun, um ihn dazu zu bringen, loszulassen.
    Dann hörte das Schütteln auf, und Jack dachte, er hätte vielleicht irgendwie gewonnen. Doch dann begriff er: Nein, hier gibt es nichts zu gewinnen, und plötzlich spürte Jack, wie sein Innerstes explodierte. Der Mann schlug ihm mit der Faust auf den Rücken. Langsame, brutale Schläge hämmerten auf ihn ein. Er hatte das Gefühl, in zwei Teile zu zerbrechen, aber auch jetzt ließ er nicht los. Er konnte nicht loslassen. Noch vor fünf

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