Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Eisbären –, als wären sie Figuren in einer überdimensionalen Schneekugel. »Das wünschst du dir also?«, fragte der Bär.
Mit einer Stimme so leise, dass sie beinahe nur im Inneren ihrer Gesichtsmaske zu hören war, antwortete Cassie: »Nein, natürlich nicht.« Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich eine Mutter gewünscht. Da war eine leere Stelle in ihr, die nichts je hatte ausfüllen können. Vater nicht. Gram nicht. Max nicht. Und auch keines der anderen Mitglieder der Stationsmannschaft, wie viele auch gekommen und gegangen waren.
»Der Nordwind hat sie nicht getötet. Er hat sie zu den Trollen geblasen. Und das hat er sich selbst niemals verziehen.« Die Stimme des Eisbären klang wie ein dumpfes Grollen, das in jeder einzelnen Faser ihres Körpers widerhallte. Ein Teil von ihr wollte nichts lieber als ihm glauben. Aber das konnte sie nicht zulassen. Fakten waren Fakten. Vorbei war vorbei. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich wünschte, es wäre anders. »Und ich bedaure, dass die Winde sie gefunden haben, obwohl ich mein Bestes tat, es zu verhindern.«
»Dein Bestes war nicht gut genug«, sagte sie. Sie kannte die Geschichte auswendig: Bring mich zu meinem Geliebten, und verberge uns vor meinem Vater! Falls das alles stimmte, dann hatte dieser Eisbär ihre Mutter im Stich gelassen. Denn hätte er sein Versprechen gehalten, hätte Cassie eine Mutter gehabt.
»Ich habe alles getan, was ich konnte.«
»Dein Versprechen ist ungültig«, sagte sie. »Du hast kein Recht, hier zu sein.«
»Das Versprechen gilt«, antwortete er mit derselben ruhigen Stimme, jener Stimme, die er eigentlich nicht haben dürfte. »Der Nordwind hätte sie niemals gefunden, wäre nicht sein Bruder gewesen.«
Er sprach von den Winden, als wären sie Wesen aus Fleisch und Blut. Wieder schloss sie die Augen. »Du hättest sie auch vor ihm verbergen müssen«, sagte sie. »Du hast versagt.«
»Es ist mir nicht gestattet, die Arktis zu verlassen. Ich habe Pflichten, die ich nicht beiseiteschieben konnte«, erklärte er. »Ich musste sie im Eis verstecken. Es tut mir leid.« Zum ersten Mal meinte sie, so etwas wie Gefühl in seinen Worten zu hören. Das war beinahe genauso verstörend wie die Worte selbst. Er glaubte, was er sagte. Er glaubte, dass ihre Mutter noch lebte.
»Eine Entschuldigung nützt gar nichts«, sagte Cassie. Sie versuchte, stark zu klingen, aber ihre Stimme spielte nicht mit und brach. Die schnellen, lauten Schläge ihres Herzens dröhnten wie Donner in ihren Ohren.
»Wenn ich es wiedergutmachen könnte – ich würde es tun.«
Würde er das? Konnte er das? »Würdest du sie aus der Gefangenschaft der ›Trolle‹ befreien?«
Sein großes Maul klappte auf und wieder zu, als ob ihre Frage ihn sprachlos gemacht hätte. Fast musste sie lächeln – es war ihr tatsächlich gelungen, ihn zu verblüffen. Sie hatte dieses Wesen, das ihre Welt auf den Kopf stellte, mit seinen eigenen Waffen geschlagen. »Du weißt nicht, was du da von mir verlangst«, sagte er endlich.
Oh doch! Sie wusste ganz genau, was sie von ihm verlangte: etwas Unmögliches. »Bring meine Mutter von den Toten zurück!« Sie sprach die Worte aus wie in Trance.
»Sie ist nicht tot.«
»Umso leichter für dich.«
»Ich habe Pflichten, die ich nicht vernachlässigen darf.«
Ohne nachzudenken, fügte Cassie hinzu: »Wenn du sie aus der Hand der Trolle befreist, werde ich deine Frau.«
Er schwieg eine kleine Ewigkeit lang. Hinter ihm flirrten Polarlichter über den nächtlichen Himmel. Das strahlend weiße Fell und die tiefschwarzen, unergründlichen Augen ließen ihn majestätisch und wild aussehen. Wind zerzauste seinen Pelz. »Ist das ein Versprechen?«, fragte er schließlich.
Plötzlich schien das alles kein Traum mehr zu sein. Es wirkte nicht mehr wie eine Halluzination. Es erschien real, überwältigend real. Sie legte eine Hand an die Wand des Stationsgebäudes, um das Gleichgewicht zu behalten. Ihre Finger waren trotz der Fäustlinge, die sie über den Handschuhen trug, taub vor Kälte. All ihr Zweifel zerbarst unter der Wucht der Worte, die sie ausgesprochen hatte. Ihre Mutter … Meine Mutter lebt? Und Cassie hatte die Möglichkeit, sie zu retten. Ihr Kopf ruckte herum. »Ja.«
»Setz dich auf meinen Rücken«, sagte der Bär und ging vor ihr auf die Knie. Sie starrte ihn an, während dieses »Ja« in ihrem Kopf widerhallte. Ja, das hatte sie gesagt. Ja, ihre Mutter war am Leben. Ja, Cassie würde sie retten.
»Ich werde dich
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