Ice Ship - Tödliche Fracht
Nachbartischen verstummt war. »Innerhalb der beiden nächsten Wochen sind die Matrosen gestorben, einer nach dem anderen«, fuhr Britton fort. »Bald waren nur noch zehn übrig. Sie litten unter quälendem Hunger und griffen zu dem einzigen Mittel, das ihnen blieb.« Amira verzog angewidert das Gesicht und ließ laut klappernd ihre Gabel fallen. »Ich ahne schon, was jetzt kommt.« »Ja. Sie waren gezwungen, ›Langschweine‹ zu essen, wie Seeleute das umschreiben. Im Klartext: ihre eigenen toten Kameraden.« »Reizend«, sagte Brambell. »Wie ich gehört habe, soll es, gut durchgekocht, besser als Schweinefleisch schmecken. Reichen Sie mir bitte mal das Lamm herüber?« »Ungefähr eine Woche später sah einer von ihnen bei schwerer See ein Wrack schlingernd auf sie zutreiben. Es war das Heck eines ihrer eigenen Schiffe, das im Sturm auseinander gebrochen war. Die Männer gerieten in Streit, Honeycutt und ein paar andere wollten hinüberschwimmen und auf dem Wrack Zuflucht suchen, aber es hatte kaum Tiefgang, daher befürchteten die meisten, dass der nächste Sturm es zerschmettern würde. Am Ende hatten nur Honeycutt, sein Steuermann und ein einfacher Seemann das Herz, durch das eisige Wasser zu dem Wrack zu schwimmen. Der Steuermann starb an Unterkühlung, bevor er an Bord klettern konnte, Honeycutt und der Seemann schafften es. Am Abend sahen sie ihre Eisinsel zum letzten Mal, sie hatte sich in der Dünung gedreht und trieb südwärts, auf die Antarktis zu. Bevor sie im Dunst verschwand, glaubten sie, wieder die zottige Gestalt zu erblicken, wie sie über die Zurückgebliebenen herfiel und sie in Stücke riss. Drei Tage später wurden sie mit ihrem Wrack auf die Riffs rund um die Diego-Ramirez-Insel geworfen, südwestlich vom Kap Hoorn. Honeycutt ertrank, der Seemann schaffte es bis zur Küste. Dort lebte er von Schellfisch, Moos, Kormoran-Guano und Tang. Er achtete darauf, dass sein Torffeuer nie erlosch, für den unwahrscheinlichen Fall, dass irgendein Schiff vorbeikäme. Sechs Monate später entdeckte ein spanisches Schiff das Signal und nahm ihn an Bord.« »Mein Gott, muss der Mann sich gefreut haben, als er das Schiff sah«, meinte McFarlane. Britton wiegte den Kopf. »Ja und nein. England befand sich damals im Kriegszustand mit Spanien. Er verbrachte die folgenden zehn Jahre in einem Kerker in Cadiz. Als er freigelassen wurde, kehrte er in seine Heimat nach Schottland zurück. Dort heiratete er ein Mädchen, das zwanzig Jahre jünger war als er, und arbeitete fortan als Farmer – weit, weit weg vom Meer.« Britton machte eine Pause, strich das Tischleinen mit den Fingerspitzen glatt und sagte leise: »Dieser einfache Seemann war William McKyle Britton, mein Urahn.« Sie trank einen Schluck Wasser, tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und gab dem Steward das Zeichen, den nächsten Gang zu servieren.
Rolvaag
27. Juni, 15.45 Uhr
McFarlane lehnte an der Reling des Hauptdecks und genoss die trägen, kaum merklichen Rollbewegungen des Schiffes. Das Ice Ship fuhr unter Ballast, was bedeutete, dass die nicht benötigten Rohöltanks zu knapp einem Drittel mit Meerwasser geflutet waren. Links von ihm ragten die Deckaufbauten auf, ein geschlossener weißer Block, der nur durch die Fenster und die gerade noch zu erkennenden Seitenflügel der Brücke ein wenig aufgelockert wurde. Hundertfünfzig Kilometer westlich, knapp über dem Horizont, lag Myrtle Beach, eingerahmt von der flachen Küstenlinie South Carolinas. Auf dem Hauptdeck hatten sich die etwas mehr als fünfzig Männer der Schiffsbesatzung versammelt – eine buntgewürfelte Schar aus Afrikanern, Portugiesen, Franzosen, Engländern, Amerikanern, Chinesen und Indonesiern, entsprechend lebhaft war das Sprachengewirr. Irgendwo klang helles Lachen auf. McFarlane wandte sich um und sah Amira bei einer Gruppe Afrikaner sitzen. Die Männer
– vom Gürtel aufwärts nackt – lachten und schäkerten mit ihr. McFarlane beschlich der Verdacht, dass Amira, die einzige anwesende Mitarbeiterin der EES, für Glinn Punkte sammeln wollte. Die Sonne – jetzt noch in einer Höhe mit den pfirsichfarbenen Puffwolken am Horizont – schickte sich an, in das glatte, kaum von Wellengang gekräuselte Meer einzutauchen. Eine Tür flog auf, Glinn erschien, gefolgt von Captain Britton, dem Ersten Offizier und weiteren Offizieren. Für den Weg zum Hauptdeck benutzten sie den zentralen Laufsteg, der – auf beiden Seiten von Rohrleitungen
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