Ich arbeite in einem Irrenhaus
grundsätzlich eine Abneigung gegen hohe akademische Abschlüsse haben. Ein Bewerber mit Promotion oder MBA gilt sofort als »Trockenschwimmer« und wird abgelehnt – egal, wie gut er ins Unternehmen passen würde. Umgekehrtes Bild in anderen Firmen: Dort haben Bewerber ohne Doktortitel keine Chance auf Führungsjobs – auch wenn sie den fehlenden akademischen Grad durch intellektuelle Brillanz aufwiegen.
Jede Firma hat ihre eigene Religion, ihre eigenen Glaubenssätze bei der Personalauswahl. Im einen Irrenhaus ist es gern gesehen, wenn jemand längere Zeit im Ausland war. Im nächsten gelten solche Stationen als »unnötige Schlenker«. Die eine Firma schätzt Bewerber, die jedes Jahr mindestens zwei Fortbildungen durchlaufen haben. Die andere hält genau solche Bewerber für faule Socken.
Wie kommen diese verdeckten Maßstäbe zustande? Ein wichtiger Anhaltspunkt sind die Biographien der Irrenhaus-Direktoren. Wo zum Beispiel ein Ingenieur mit Auslandserfahrung an der Spitze steht, haben Bewerber mit Ingenieursstudium und Auslandserfahrung die allerbesten Karten – während Inlandserfahrungen oder geisteswissenschaftliche Abschlüsse nichts gelten. Wo ein Autodidakt die Geschicke der Firma bestimmt, haben Quereinsteiger gute Chancen – während Hochqualifizierte oft abgelehnt werden. Und wo ein Mann das Heft der Entscheidung in der Hand hält, werden Männer eher als Frauen eingestellt, wie eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung nachweist. 8
Der heimliche Leitsatz vieler Irrenhäuser: »Der Bewerber soll exakt so sein, wie wir es auch sind.« Diese Personalauswahl ist etwa so logisch, als würde ein Fußballtrainer, der selber mal Stürmer war, ein Team aus lauter Angreifern aufstellen und immer weitere Stürmer einkaufen. Keine Torleute. Keine Verteidiger. Keine Mittelfeldspieler. Immer nur Stürmer.
Warum wurden Firmen einst gegründet? Weil Menschen, die miteinander arbeiten, sich mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen ergänzen können. Gut möglich, dass die Buchhalterin aus der ehemaligen DDR in ihren jungen Jahren Kompetenzen erworben hat, die ein Lebenslauf im Westen nicht beinhaltet – zum Beispiel die Kunst der Improvisation oder Teamfähigkeit.
Gerade diese Buntheit einer Belegschaft sorgt dafür, dass sich die Stärken der Einzelnen zu einer gemeinsamen Kraft bündeln. Denn wenn ein Team mit elf Mittelstürmern aufläuft, kassiert es ein Tor nach dem anderen. Die Fußballtrainer haben das begriffen. Die Irrenhaus-Direktoren noch nicht.
Betr.: Wie ich per Marathon zum neuen Job kam
Eigentlich hatte ich mir von der Bewerbung nicht viel versprochen. Die Catering-Firma suchte einen Buchhalter mit »mehreren Jahren Erfahrung«. Ich konnte nur 14 Monate Zeitarbeit vorweisen. Umso überraschter war ich, als ich tatsächlich zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.
Mit dem Geschäftsführer, einem drahtigen Mittvierziger, habe ich etwa 15 Minuten über meinen Werdegang gesprochen. Dann wechselte er das Thema: »In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie Marathon laufen. Darf ich nach Ihrer Bestzeit fragen?« Als ich drei Stunden und vierzig sagte, leuchteten seine Augen. Er erzählte mir, dass die Firma ein Marathonteam habe. Wir verstrickten uns in eine Fachsimpelei übers Laufen.
Leider! Denn so ging das Gespräch vorbei, ohne dass ich meine Qualifikation näher ausgeführt hatte.
Auf dem Heimweg war ich sauer auf mich selbst. Jetzt hatte ich viel übers Laufen erzählt – aber kaum über meine berufliche Qualifikation. Eine nette Plauderei war einfach zu wenig. Ich rechnete mit einer Absage.
Zwei Tage später rief mich der Geschäftsführer an. Ich sollte vorbeikommen, um den Vertrag zu unterzeichnen. Es gab nicht mal ein Zweitgespräch. Mein wichtigster Einsatz in der ersten Arbeitswoche: das betriebliche Marathontraining nach Feierabend.
Inzwischen weiß ich: Der Chef, selbst Marathonläufer, zieht in jeder Hinsicht Läuferkollegen vor. Beim Einstellen. Beim Befördern. Und sogar bei seinen »Duzfreundschaften«. Glück für mich – und Pech für alle, die zufällig nicht laufen.
Karsten Mingers, Buchhalter
§ 8 Irrenhaus-Ordnung: Bei der Einstellung sind Bewerber zu bevorzugen, die den vorhandenen Mitarbeitern so sehr ähneln, dass man sie eigentlich nicht bräuchte – aber sicher sein kann, dass sie keine Neuerungen einschleppen.
Die Kunst des Fehlgriffs
Einer meiner Klienten, ein Elektroingenieur, verblüfft mich immer wieder: In kürzester Zeit
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