Ich arbeite in einem Irrenhaus
gestorben ist.
Die floskelhafte Firmen-Landessprache verstellt ihnen den Blick auf die eigenen Gefühle – weshalb meine Frage in der Beratung lautet: »Wenn die Ereignisse, die Sie gerade mit diesen trockenen Worten geschildert haben, von Schauspielern in einem emotionalen Hollywoodfilm dargestellt würden – was bekäme der Zuschauer auf der Leinwand zu sehen?« Dieser Ansatz bringt die Menschen wieder mit ihren Gefühlen, mit ihrem Wesenskern abseits des Firmenirrsinns in Berührung.
Phänomenal ist für mich, wie schnell die Gepflogenheiten einer Firma auf einen neuen Mitarbeiter überspringen. In den ersten Wochen fremdelt er noch mit Eigenarten des Irrenhauses, etwa damit, den Kollegen jeden Morgen oder bei jedem Betreten eines anderen Büros zur Begrüßung die Hand zu geben (wie in etlichen deutschen Firmen praktiziert). Aber ein Jahr später, wenn derselbe Klient mir bei einer Messe zweimal über den Weg läuft, schnappt er auch beim zweiten Mal meine Hand und reißt sie mir beim freundlichen Schütteln fast ab.
Der Saft des Baumstamms hat den Zweig bis in die Blätterspitzen durchdrungen.
§ 6 Irrenhaus-Ordnung: Mitarbeiter dürfen schimpfen: »Das sieht der Firma ähnlich!« – aber nur, solange sie dabei in den Spiegel schauen!
2.
Ab in die Zwangsjacke –
vom Bewerber zum Insassen
Zunächst ein paar Fragen zu Ihrer Person:
Herr … Frau … oder Fräulein?
W as haben Lotto und die Personalauswahl der Irrenhäuser gemeinsam? Die Trefferquote. In diesem Kapitel erfahren Sie …
• wie ein Absagebrief ganz Deutschland in Rage brachte,
• warum »Personalauswahl« nur ein anderes Wort für »Willkür« ist,
• was hinter den Kulissen einer Firma passiert, ehe ein Bewerber zum Insassen wird,
• und weshalb internationale Studien die deutsche Personalauswahl auf dem letzten Platz sehen (zusammen mit der Türkei!).
Die Absagebrief-Bombe
Als die Buchhalterin Gabriela S. in ihren Briefkasten griff, ahnte sie noch nicht, welche »Bombe« sie gleich ans Licht fördern würde. Die Sprengkraft des Briefes war so groß, dass sich ein Arbeitsgericht und sämtliche deutsche Medien mit ihm befassen sollten. Dabei schickte ihr der schwäbische Fensterbauer, bei dem sie sich beworben hatte, nur eine Absage.
Doch dieser Umschlag enthielt etwas, das in Absagen sonst nicht vorkommt: die ganze Wahrheit. Die meisten Irrenhäuser ergehen sich bei solchen Briefen in Floskeln, die ebenso höflich wie gelogen sind. Zum Beispiel heißt es, man habe sich über die Bewerbung gefreut (auch wenn sie als unnötige Arbeit verflucht wurde) und der Bewerber solle die Absage nicht als Geringschätzung seiner Qualifikation oder Person werten (obwohl sie genau so zu werten ist).
Doch die Absage des Fensterbauers enthielt einen unfreiwilligen Kassiber, der Gabriela S. die Zornesröte ins Gesicht trieb: Neben ihren Namen im Lebenslauf hatte jemand das Wort » OSSI « gekritzelt, davor stand ein eingekreistes Minuszeichen. Das klang wie das negative Urteil eines Gerichts. Dieser Verdacht erhärtete sich, als Gabriela S. den ganzen Lebenslauf durchsah. Mehrfach war neben ihre Berufsstationen an den Rand des Lebenslaufes die Abkürzung »DDR« geschrieben worden.
Die Buchhalterin (49) war zutiefst gekränkt. Wie konnte es sein, dass es offenbar nicht auf ihre Qualifikation ankam, sondern nur auf ihren Geburtsstaat? Und wie konnte jemand, für den die DDR offenbar ein Reizwort war, bei seiner Personalauswahl genau das praktizieren, was viele dem SED -Regime vorgeworfen hatten: Willkür und Diskriminierung?
Ironie der Geschichte: Gabriela S. hatte die DDR bereits 1988 verlassen, vor der Wende. Seit über zwei Jahrzehnten lebte sie in Baden-Württemberg. Sogar die Landessprache, den schwäbischen Dialekt, verstand und beherrschte sie.
Die Buchhalterin war sauer: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich als ›Minus-Ossi‹ bezeichnen lassen muss«, sagte sie dem »Spiegel«. 7 Mit ihrem Anwalt ging sie gegen die irre Personalauswahl der Fensterbau-Firma vor. Nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz ( AGG ), das die Diskriminierung von Ethnien verbietet, wollte sie eine Entschädigung durchfechten.
Der Fensterbauer reagierte irrenhausverdächtig: Er schickte Gabriela S. die Todesanzeige eines langjährigen Mitarbeiters zu, mit der makaberen Anmerkung, der Verstorbene sei auch Ostdeutscher gewesen und habe bis zum Tode in der Firma bleiben dürfen. Und »Ossi«, so behauptete die Firma weiter, sei nicht
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