Ich bin da noch mal hin
bleiben.
»Natürlich. Die Nähe, von der er schrieb, war echt. Und ist es geblieben.«
»Schauen Sie!«, sagte er und zeigte mir seinen Computerbildschirm. »Hier ist eine Rezension seines Buches. Da steht: ›… er freundet sich an mit …‹, – und das sind wohl Sie.«
»Das mag schon sein. Ich hol mir noch was zu trinken, Gene, mögen Sie auch was?«
»Nein, danke, herrje, schon so spät! Ich muss um halb elf die Herberge abschließen, wir haben nur noch zehn Minuten!«
»Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich hab das Bier gerade bestellt.«
»Zehn Minuten noch! Mehr nicht!«, entgegnete er, klappte seinen Computer zu und ging durch die Bar davon.
Für wen hielt ich mich, um eine Ausnahme zu bitten? Für eine Prominente?
Dienstag, 6. Juli 2010
Ich wandere 25 Kilometer von Rabanal del Camino nach Molinaseca
Ich machte die Hitze dafür verantwortlich, dass ich um vier Uhr morgens wach wurde, aber was mich wirklich aus dem Schlaf gerissen hatte, waren meine unruhigen Gedanken. Das einsame Abendessen ein paar Stunden zuvor in der Hostería El Refugio und das seltsame Gespräch mit Gene hatten sich zu der Erkenntnis kondensiert, dass es kein Zurück gibt. Die Vergangenheit ist nicht mehr als eine Erinnerung. Wenn ich das nicht akzeptieren konnte, würde ich meine letzten zehn Tage auf dem Weg nach Santiago damit vergeuden, mich in leerer Nostalgie nach meinen abwesenden compañeros zu sehnen. Denn genau von Rabanal an waren Hans und ich unzertrennlich gewesen, während die autonomere Shelagh immer ein paar Tassen Kaffee weiter vorn oder weiter hinten war. Dieses Jahr Santiago zu erreichen, das wusste ich, würde bedeuten, 2001 zu vergessen und stattdessen entsprechend Buddhas Rat den Augenblick zu leben.
Beim Frühstück sprach die Frau mit dem gelben Kopftuch von gestern Abend, Christina, mit Betty und Dugald über einen neuen Hollywoodfilm. Diesmal waren ihre beiden Söhne, Noah und Isaac, bei ihr, und ich dachte, sie musste den beiden Jugendlichen eine großartige Mutter sein, wenn sie so begeistert mit ihr einen derart anstrengenden »Urlaub« verbrachten. Ich lauschte schweigend, denn ich wollte niemandem mit meiner Melancholie den Morgen verderben.
»Der Film heißt ›The Way‹«, sagte sie. »Martin Sheen spielt darin einen Vater, dessen Sohn auf dem Camino ertrunken ist. Er kommt daraufhin nach Spanien, um die Asche seines Sohnes auf dem Camino zu verstreuen. Dabei entwickelt er mehr Verständnis für ihn.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wo es am Camino genug Wasser gab, um zu ertrinken, als Christina hinzufügte: »Und ich habe ein paar Deutsche kennengelernt, die mir erzählt haben, sie seien wegen des Buches hier, das ein deutscher Komiker geschrieben hat.«
Gene, der schnell unsere Kaffeetassen auffüllte, warf mir einen Blick zu. Ich kaute meinen Toast und hielt den Mund. Christina und ihre Söhne wussten nach dem Frühstück nicht mehr über mich als vorher.
Betty und Dugald verkauften mir das neueste »Gelbe Buch« – eine Kopie des 2010 erschienenen Führers der English Confraternity of Saint James. Überreden mussten sie mich dazu nicht. Ich steckte es griffbereit in der Pole Position ein, über meinem »Gelben Buch« von 2001. Es war an der Zeit, mich nicht mehr auf Sammlerstücke zu verlassen. Als ich aus dem Refugio Gaucelmo trat, empfahlen sie mir, später in der Woche in Ruitelán zu übernachten und »der Musik zu lauschen«.
»Ruitelán? Nie gehört«, sagte ich darauf. »Und was für eine Art Musik ist das?«
»Ach, wenn wir dir das erzählen, ist es keine Überraschung mehr«, meinte Betty, und dann öffnete Gene das Tor und die drei hospitaleros winkten mir zum Abschied nach.
Es war 7 Uhr 40 und ich verließ als letzte Pilgerin Rabanal.
Vor mir lagen dreihundertachtundsechzig Höhenmeter Anstieg auf den Monte Irago. Der sandige Pfad den Berghang hinauf verlief durch Besenginster, Farnkraut, Eichengruppen und massenweise purpurfarbenen Fingerhut. Warum der deutsche Mönch Künig von Vach diese Landschaft so gehasst hatte, war unverständlich. 1495 hatte er nach seiner Rückkehr vom Camino geschrieben: »Mein Rat ist, dass du dich von Rabanal fernhältst.« In Foncebadón muss sich seine Laune aber doch gebessert haben! Ich jedenfalls empfand es heute bei meiner Ankunft als die reinste Augenweide. Vor neun Jahren noch halb in Ruinen, war das winzige, im zwölften Jahrhundert von dem Eremiten Gaucelmo gegründete Dorf inzwischen eindrucksvoll restauriert. Drei
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