Ich bin da noch mal hin
des Río de la Pretadura. Seine Worte sind mir heilig, doch die Warnung in meinem »Gelben Buch« 2010 entsprach eher der Wahrheit: »Der Pfad von Riego nach Molinaseca ist nicht immer einfach zu finden, und es gibt einige steile Abstiege. Größte Vorsicht ist geboten.« Als ich das viereinhalb Kilometer später in Molinaseca las, hätte ich am liebsten hinzugefügt: »Sie werden sich fühlen wie Orpheus in der Unterwelt. Werfen Sie keinen Blick zurück!« Eine Hortensie unter einem der für Galicien typischen verglasten Balkone war der letzte Gruß der Zivilisation, den ich zu Gesicht bekam, ehe ich die Unterwelt betrat. Eine Kiefern- und Kastanienallee ging rasch in einen sandigen Pfad voll spitzer Kiesel und loser Steine über. Zwar wuchsen am Rand tatsächlich hübsche Sonnenröschen, aber sie anzusehen wäre zu riskant gewesen, wenn man nicht stolpern und sich den Knöchel brechen wollte. Bisweilen verlief der Pfad an gefährlich steil abfallenden, mit Ginster und dunklen Eichen bewachsenen Hängen entlang oder durch Korridore aus Granitplatten. Die unerbittliche Abwärtsspirale traf auf eine Straße, auf der ich gefahrlos nach Molinaseca hätte gelangen können, die ich jedoch pflichtbewusst kreuzte, um es wieder mit dem Pfad aufzunehmen, auf dem mir große Büschel haariger Ginsterhülsen ins Gesicht schlugen. Mein Thermometer zeigte achtunddreißig Grad, als ich neben dem Skelett eines vom Blitz geschwärzten Baumes auf die Knie sank. Ich dachte an Britte, die sechzigjährige schwedische Kunstkritikerin, die ich in Nájera kennengelernt hatte und die um eines Zeitschriftenartikels willen den ganzen Weg bis nach Santiago auf dem Weg der Wanderer radeln wollte. Ich trat auf die Straße, die den Blick auf die Kleingärten freigab, und hoffte, dass sie schon lange vor dieser höllischen Wegstunde ihr unvernünftiges Projekt aufgegeben hatte.
Domenico Laffi, unser italienischer Priester aus dem 17. Jahrhundert, sagte über Molinaseca: »Dies ist die erste Ortschaft nach diesen hohen Bergen; sie befindet sich inmitten einer sehr schönen Ebene, durch die ein Fluss fließt, der von Osten kommt und immer Wasser führt.« Ich kämpfte mich auf der romanischen Puente de Peregrinos über den glitzernden Fluss Meruelo und hielt meine geschundenen Füße in jenes kalte Wasser, das nie versiegt. Drei ältere Frauen in Blümchenkleidern bezogen vor mir Position und sahen mich mütterlich an.
»Pilgerin«, sagte die Mittlere, »tut das Wasser gut?«
»Oh ja«, erwiderte ich. »Das ist alles, was ich brauche.«
»Wir sagen, dieses Wasser ist kostbarer als Gold«, sagte sie stolz.
Die drei Frauen hielten ihre Handtaschen umklammert und lächelten, weil ich es zu schätzen wusste. Ich befand mich an einem Ort, an dem die Menschen Leben spendende Kraft erkannten, wenn sie ihr begegneten.
Ich bin wirklich eine Närrin. Gerade erst habe ich im kristallklaren Goldwasser gesehen, dass sich an sechs meiner Zehen die Nägel ablösen – das war der Grund für den stechenden Schmerz, der sich seit Riego mit jedem Schritt meldete. Da es erst vier Uhr war, beschloss ich trotzdem, in der Albergue Santa Marina nur etwas zu trinken und dann sofort nach Ponferrada weiterzuziehen. »Arme Anne, sie wird es nie lernen«, sagt Shelagh in »Ich bin dann mal weg« eines Tages zu Hans. Unmittelbar bevor ich bewies, wie berechtigt dieses Urteil war, indem ich an diesem Abend noch zwei Wegstunden zu viel ging, sprach mich ein junger Mann an, der in einem Liegestuhl vor der Herberge saß.
»Bleib«, befahl er. »Es ist schön hier.«
»Hallo, Bob. Wann bist du denn angekommen?«
»Um zwei. Nach zwei gehe ich nie irgendwohin. Du solltest es auch so halten.«
Und so wurde ich, Anne Butterfield, zweiundfünfzig, aus Leeds, von Bob Spiekermann, neunzehn, aus Utrecht, davor bewahrt, nach Ponferrada und damit entschieden zu weit zu gehen.
Gleich darauf war ich am Waschtrog im Garten damit beschäftigt, den Monte Irago aus meinen Kleidern zu waschen.Beim nächsten Punkt meiner Tagesroutine, der Dusche, brauchte ich länger als gewöhnlich, um wieder so anständig auszusehen, dass ich auf der pittoresken Calle Real einkaufen gehen konnte. Als ich zum Abendessen in die Casa Marcos humpelte, waren die einzigen Gäste im comedor Bob und ein weiterer Pilger.
»Hallo!«, sagte ich und stellte meine Einkäufe auf den Boden neben dem nächsten Tisch.
»Setz dich doch zu uns. Das ist netter.«
»Super, mache ich gern.«
»Was ist denn das alles?«,
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