Ich bin da noch mal hin
Kassette in einen Ghettoblaster auf dem Boden.«
»Sie haben nicht geahnt, dass du ihnen einen Streich spielst?«
»Nein. Oder ja, doch, aber erst ganz zum Schluss.«
»Ach, Hans, die armen Ostdeutschen!«
Als der Kellner mit dem zweiten Gang kam, wischte ich mir mit der Serviette verstohlen über die Wange. Bestimmt sah er, dass ich geweint hatte. Ich hoffte, dass er nicht annahm, es hätte an der Suppe gelegen. Das köstliche Essen konnte ich an diesem Abend kaum genießen. Zwei weitere Paare kamen, nun aßen also neun Menschen hier zu Abend – das machte meine Einsamkeit nicht besser. Ich war die Einzige hier, die allein aß. Der Gegensatz zwischen meinem Abend mit Hans und meiner heutigen Einsamkeit war demoralisierend. Mein Camino von 2001 war nicht wiederholbar. Schwester María Anunciación hatte mir erklärt, die Pilgerreise sei zu Ende, sobald man dieAntwort auf seine Fragen gefunden habe. Dann könne man nach Hause fahren. Das sollte ich wohl tun, dachte ich, während ich mein eiskaltes Wasser in großen, schluchzenden Schlucken herunterstürzte. Heimfahren.
Meine Gefühle überwältigten mich an diesem Abend. Das hatte ich genauso wenig kommen sehen wie seinerzeit die kleine Baumwollratte den Stein, den mein Fahrer geschleudert hatte. Der Camino bringt die verborgensten Gefühle ans Tageslicht, breitet sie vor einem aus und sagt: »Da! Na los! Mach was draus!« Irgendwann merkte ich, dass der Speisesaal leer war. Die vier Pärchen waren schon ins Refugio Gaucelmo zurückgekehrt, während ich vergangenen Zeiten nachtrauerte. Ich nahm meine Weinkaraffe und das Glas und wechselte in die Bar. Am ersten Tisch jenseits der Buntglasscheibe saß Gene, unser amerikanischer hospitalero .
War das nicht der Tisch, an dem ich mit Hans den Abend verbracht hatte?
»Hallo, Gene«, sagte ich. »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
»Nein, überhaupt nicht, bitte!«, antwortete er und blickte von seinem Laptop auf, der auf dem Tisch stand.
Unserem Tisch?
»Was machst du?«, fragte ich, während ich meinen Wein und meinen Hut neben seinen Computer legte.
»Ach, ich checke bloß mal unsere Website.«
»Welche?«
»The American Pilgrims on the Camino. Ich betreue sie.«
»Wie kamst du in den Vereinigten Staaten dazu, dich für den Camino zu interessieren?«
»Ach, ich hatte ein paar Sachen darüber gelesen«, erzählte er. »Nicht das Buch von Shirley MacLaine – da weiß ich sowieso, was drin steht –, aber andere, zum Beispiel das von diesem Deutschen.«
Die Vergangenheit war unentrinnbar und ich in ihrem weltweiten Netz gefangen.
»Ich habe MacLaines Buch auch nie gelesen, habe aber das Gefühl, es zu kennen«, sagte ich. »Die Amerikaner auf meinem ersten Camino sprachen ständig darüber. Ich habe nie verstanden, wozu sie einen indianischen spirituellen Führer brauchte, wo sie doch bloß den gelben Pfeilen folgen musste.«
Gene war ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch, Inbegriff eines Mannes, der alles unter Kontrolle hat. Sein stahlgraues Haar passte farblich perfekt zu seiner Brille mit dem grauen Stahlrahmen. Sein akkurat gebügeltes blaues Hemd erinnerte mich an etwas, das ich auf dem Camino vermisste – ein Bügeleisen.
»Seit sie hier war, sind fünfundzwanzig Jahre vergangen. Vielleicht gab es die gelben Pfeile damals noch nicht«, mutmaßte er.
»Was halten Sie von dem Buch des Deutschen?«, fragte ich, zuversichtlich, eine ehrliche Antwort zu erhalten, da er mich nicht kannte.
»Na ja, er hat die Pilgerreise in einer Art Krise begonnen und war anderen Pilgern gegenüber ziemlich kritisch. Aber am Ende hat er sich verändert«, ließ mich Gene wissen.
»Inwiefern?«, fragte ich und dachte dabei an den unveränderten Hans, den ich vier Monate zuvor in Berlin getroffen hatte.
»Na ja, er konnte mehr akzeptieren.«
»Zum Beispiel? War er anderen Leuten gegenüber toleranter?«
»Ja, das glaube ich schon. Er ging mit zwei Frauen nach Santiago, die er unterwegs kennengelernt hatte. Und weißt du, da ist wirklich Nähe entstanden!«
Ach, tatsächlich? Gene wirkte so überrascht über den Gedanken, dass zwischen einem Star und zwei gewöhnlichen Frauen echte Nähe entsteht, dass ich mehr über seine Sichtweise unseres Trios erfragen musste.
»Dann denken Sie also, dass er sich unter normalen Umständen nie mit diesen Frauen angefreundet hätte?«
»Ja, das glaube ich. Es wäre nicht dazu gekommen. Aber er ist unterwegs viel offener geworden.«
»Ich glaube nicht, dass der
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