Ich bin da noch mal hin
wollte Bob mit Blick auf meine Tüten wissen, als ich zwischen ihm und Pedro Platz nahm.
»Erste Hilfe. Soeben habe ich in der Apotheke vierzehn Euro in Blasenpflaster und Zehenschutz investiert. Ich bin diese Woche zu viel gewandert und habe mir die Füße ruiniert.«
»Du solltest immer um zwei Uhr Schluss machen.«
»Wieso bist du eigentlich so furchtbar pedantisch? Was bist du noch mal von Beruf?«
»Ich will Grundschullehrer werden. Und arbeite neben dem Studium in einem Supermarkt.«
»Als was?«
»Ich beaufsichtige ein Frauenteam. Ich bin zuständig für die Leistungskontrolle.«
»Wie alt sind diese Frauen?«
»Ach, ich würde sagen, so in deinem Alter.«
»Und wieso kontrolliert ein Neunzehnjähriger ihre Leistung?«
»Sie schätzen es auch nicht besonders.«
»Das ginge mir ähnlich. Ich habe es eigentlich nie leiden können, von irgendwem kontrolliert zu werden, egal wie alt er oder sie war. Warum bist du hier, Bob?«
»Mein Onkel ist den Camino gegangen und hat so begeistert davon erzählt, dass ich auch Lust bekam.«
»Was meinst du, worum es dabei geht?«
»Vier Sachen sind wichtig: Geduld, Ausgeglichenheit, Loslassen und Verstehen.«
Ich spürte, dass er diese Qualitäten bereits in reichlichem Maß besaß, was ich von mir nicht behaupten kann. Hans gegenüber habe ich oft eine Version von »Loslassen« von mirgegeben: »Lass den Gedanken ziehen«, sagte ich zu ihm, wenn er zu lange über irgendetwas brütete. Nie habe ich ihm gegenüber zugegeben, dass ich das selbst nicht konnte. Und ich kann es immer noch nicht.
»Verstehen – was genau?«, fragte ich Bob.
»Na ja, zum Beispiel, wenn Leute sich in einer bestimmten Weise verhalten, muss man immer versuchen, den Grund dafür zu verstehen. Geben tut es immer einen.«
»Aber auf dem Camino sind doch alle nett, findest du nicht? Da gibt es nicht viel zu verstehen«, sagte ich. Meine Menschenfreundlichkeit hatte sich nach dem morgendlichen Missmut wieder vollständig regeneriert.
»Nicht immer«, meinte Bob. »Am ersten Tag hätte ich fast aufgegeben. Es hatte von Saint-Jean ab die ganze Zeit geregnet. Dann habe ich mich noch verlaufen und kam sehr spät in Roncesvalles an.«
Manche Leute geben auf diesem Abschnitt tatsächlich auf und fahren per Anhalter, dachte ich im Gedanken an Hans in dem Schaftransporter.
»Das passiert vielen, mach dir deshalb keine Vorwürfe, Bob«, sagte ich.
»Ich habe die Wäschepresse nicht gesehen und meine Klamotten tropfnass aufgehängt, sodass sich am Boden Pfützen bildeten. Der hospitalero hat mich angebrüllt. Es war einfach schrecklich. Ich wollte nur noch nach Hause.«
»Na, ich bin froh, dass du dich anders entschieden hast, sonst hätte ich dich nicht kennengelernt. Was ist das für ein hospitalero , der Pilger anschreit?«
»Das Schlimmste war, er war Holländer. Ich konnte alles verstehen, was er sagte!«
»Ach, Bob, du Ärmster! Hast du geweint?«
»Nein. Ich dachte wirklich, ich fange zu weinen an, aber dann habe ich mich zusammengerissen.«
»Bob, weine einfach, wenn dir danach ist! Ich mache das ständig. Dieser hospitalero hätte es verdient zu sehen, was er dir angetan hat. Er ist derjenige, der verstehen muss, nicht du!«
Bobs Gesichtsausdruck, der in manchen Momenten unseres Gesprächs etwas gequält wirkte, fand bald zu seiner üblichenGelassenheit zurück. Mich erstaunte die Belastbarkeit eines so jungen Menschen.
»Oh, es ist schon halb neun! Das Fußballspiel! Tut mir leid, Anne, ich muss los!«, rief er plötzlich und rannte mit Pedro die Treppe hinauf zur Bar.
Ich beherrsche vielleicht das Loslassen nicht, aber mein Verstehen ist dafür in einem bestimmten Bereich sehr hoch entwickelt. Besser als wohl die meisten anderen Leute konnte ich verstehen, warum ein Niederländer mich verlassen musste, um das WM-Halbfinale Niederlande gegen Uruguay zu sehen. Sobald ich meine torta de Santiago aufgegessen hatte, würde ich hinterherrennen. Humpeln, meine ich natürlich. Hinterherhumpeln.
Schon Minuten später war ich bei Bob und Pedro. Ein ganzer WM-Fanklub aus dem Kreis der Pilger der Herberge drängte sich an zwei Tischen, um zuzuschauen, wie die Niederlande Uruguay drei zu zwei schlugen – karmische Wiedergutmachung für Uruguays unfaires Handspiel an der Torlinie gegen Ghana. Die ganze Welt weiß, dass Ghana, nicht Uruguay in diesem Halbfinale hätte stehen müssen. Christina, Noah und Isaac sahen über die sportliche Ungerechtigkeit hinweg und feuerten zusammen mit den
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