Ich bin da noch mal hin
Ich habe genug. Na schön, ich gehe weiter, klar. Muss ich ja. Wie könnte ich Blanca unter die Augen treten, wenn ich als Wanderin genauso versage wie als Radfahrerin? Aber ich bin total ausgebrannt. So fühle ich mich, seit ich gestern, am Tag nach Spaniens WM-Sieg, Sarria hinter mir gelassen habe. Ganz Spanien, von der königlichen Familie bis zum Camino, hüllt sich in Rot und Gelb. Genugtuung allenthalben. Auch ich habe eine Spanienflagge, erstanden in O Cebreiro,sie flattert von meinem Rucksack, um meine Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. In Wahrheit bin ich furchtbar enttäuscht. Nicht nur die WM ist in Sarria zu Ende gegangen, sondern mit ihr in vielfacher Hinsicht auch mein Camino.
Nach all dem Nervenkitzel, den glücklichen und unglücklichen Momenten, den dramatischen und komischen Augenblicken des Turniers war das Endspiel Spanien gegen Holland am Abend alles andere als ein Höhepunkt. Das sind WM-Endspiele selten, aber diese Begegnung litt zusätzlich unter der eigenwilligen Auslegung der Regeln durch den englischen Schiedsrichter. Nach zwanzig langweiligen Minuten, in denen sich beide Teams größte Mühe gaben, bloß keinen Fehler zu machen, leistete sich Hollands Nigel de Jong einen wirklich kolossalen, indem er dem Spanier Xabi Alonso einen Tritt gegen die Brust verpasste. Das war mit einiger Wahrscheinlichkeit das schlimmste Foul bei einer WM, seit 1982 der Franzose Battiston durch eine unsaubere Kung-Fu-Attacke des deutschen Torhüters Schumacher zu Fall gebracht wurde. Ich fiel vor lauter Aufregung von dem Hocker, auf dem ich seit meiner Ankunft in Triacastela um 16 Uhr saß. Ein Pilger aus Barcelona am Nebentisch namens Juan fing mich auf, und wir schlossen für die Dauer des Spiels Freundschaft. Er und seine Freunde hatten eine Flasche Cava auf dem Fensterbrett bereitgestellt, um zu feiern, wenn die Spanier, diese ewigen Verlierer, endlich doch einmal den Sieg davontrugen.
Dieses Foul sicherte den Spaniern die hundertprozentige Unterstützung aller Pilger in Sarria. Uns stand der Mund offen, als wir de Jongs bösen Tritt sahen und wir darauf warteten, dass ihm der Platzverweis erteilt werde. Mit angehaltenem Atem sahen wir, wie Schiedsrichter Webb nur mit einer gelben Karte wedelte. Die Niederlande durften mit elf Mann weiterspielen. Wenn die Holländer nun die Weltmeisterschaft gewinnen, so dachte ich, würde das noch mehr der Gerechtigkeit spotten als der andere große Fauxpas dieses Turniers, Frank Lampards nicht anerkanntes Tor gegen Deutschland. Nigel de Jong mag zwar um das Urteil des Schiedsrichters herumgekommen sein, doch er und Harald Schumacher sollten sich schon einmal überlegen, was sie an jenem unentrinnbaren Tag sagen werden,an dem über ihr Leben gerichtet wird. Da brauchen sie eine gute Ausrede.
Richtig genießen konnte ich das Match nach dieser Szene nicht mehr, und so erging es auch den anderen. Die Anspannung war einfach zu hoch, zu viel stand auf dem Spiel. Wir sahen einem freudlosen Abnutzungskrieg zu, und bald war klar: Das erste Tor würde sicherlich das einzige bleiben und das Spiel entscheiden. Und niemand wollte, dass es ein Holländer schoss.
»Lo que necesitamos ahorita«, zitierte ich einen Satz, den ich in einer Zeitung gelesen hatte, »es un cabezazo de oro.« (Was wir jetzt brauchen, ist ein goldener Kopfstoß.)
Die Männer aus Barcelona wandten gleichzeitig die Köpfe und starrten mich an.
»Habt ihr das gehört?«, sagte einer schließlich. »Sie spricht wie eine Katalanin!«
In der angespannten Atmosphäre war es mir zu kompliziert, zu erläutern, dass ich einen Kommentar zu Puyols Tor gegen Deutschland zitiert hatte. Ich hoffte, mit meinem Einwurf den Spaniern das verdiente Glück zu bringen. Und so geschah es. Spanien schoss ein goldenes Tor, wenn es auch kein Kopfball war und der Schütze nicht Puyol hieß. In der Verlängerung kam Spaniens Spielmacher Andrés Iniesta, der ganz allein im Strafraum stand, an den Ball. Ich wagte kaum hinzuschauen – doch Iniesta erlöste Sarria und ganz Spanien aus der unerträglichen Spannung. Er traf ins Tor.
Ein gerechter Sieg. Der Cava aus Barcelona war rasch entkorkt, und Juan reichte mir feierlich ein Glas. Ich hatte eigentlich genug getrunken, aber ich konnte nicht ablehnen, schließlich erlebte ich zum ersten Mal hautnah – abgesehen von der Fußballweltmeisterschaft 1966 in England –, dass ein Land Fußballweltmeister wurde. Erwachsene Pilger, ich eingeschlossen, vergossen Tränen. Ich musste an meinen
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