Ich bin da noch mal hin
doch ganz anders.«
»Ja, wir wissen das, aber die Menschen können nicht vergessen.«
»Wir erzählen nicht jedem auf dem Camino, dass wir Polizisten sind«, warf Carmen ein, die ein Tempo vorlegte, als gelte es, einen flüchtigen Kriminellen einzuholen.
»Aber man wird doch ständig nach seinem Beruf gefragt, was sagt ihr dann?«, fragte ich.
»Ich sage, ich bin Lehrerin und Andrés Automechaniker.«
»Schrecklich, dass ihr so lügen müsst. Ich muss vielleicht heute bis in die Nacht hinein wandern, aber jetzt, wo ihr da seid, habe ich keine Angst davor.«
»Danke.«
»Ich meine das ganz ernst.«
Andrés und Carmen waren so stark, dass ich wusste, sie würden mich zur Not auch auf einer schnell zusammengebautenTrage nach Melide schleppen, falls alle Herbergen unterwegs voll waren. Die Erste, neben der winzigen Kirche San Xulián, war tatsächlich ausgebucht, doch als ich wieder herauskam, waren Carmen und Andrés noch da. Sie hatten nicht die Absicht, mich zurückzulassen, selbst wenn das bedeutete, erst um Mitternacht in Melide einzutreffen. Ihr Gemeinsinn gab mir neuen Schwung für den Weg durch den Wald und über einen nahezu ausgetrockneten Fluss nach Pontecampaña. Meine Polizeieskorte wartete draußen vor der Albergue Casa Domingo geduldig auf meine Bestätigung, ich hätte ein Bett für die Nacht. Dann verabschiedeten sie sich und taten meinen Dank für ihre Unterstützung mit einer Handbewegung ab. Ich sah ihnen nach, wie sie in Richtung Melide davonmarschierten, und fragte mich, warum sie unter falscher Identität wanderten. Eine Lehrerin und ein Automechaniker? Warum sagten sie nicht einfach allen die Wahrheit? Nämlich, dass sie Engel waren? Geglaubt hätte ihnen das jeder – sogar ich.
Vor neun Jahren muss ich an diesem Steinbau vorbeigelaufen sein, ohne ihn auch nur zu registrieren. Doch jetzt hat man das traditionelle galicische Bauernhaus mit viel Phantasie in die Herberge Casa Domingo verwandelt. Rosafarbene Petunien und leuchtend orange Ringelblumen wachsen aus einem Trog neben dem Eingang, unter dem hórreo dahinter blühen türkisfarbene Hortensien. An den Latten des hórreo hängen dekorativ ein paar Sensen, und auch ein Pferdekarren erinnert daran, wie schwer früher die Arbeit der Bauern war, die jetzt als hospitaleros die Herberge betreiben. Ich verfrachte meine Klamotten in die Zinnwannen, die jetzt als Waschbecken dienen, und dann rühre ich mich für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Innenhof weg, der inzwischen als Biergarten dient.
Abendessen gibt es um 20 Uhr im imposanten Hauptraum der Herberge. Glasierte Auflaufformen mit Bergen von Hühnchen, Kartoffeln und gedünstetem Gemüse werden feierlich aus der Küche hereingetragen. Das köstliche Essen scheint fast zu üppig, denn wir sitzen nur zu fünft an einer kleinen Ecke der langen Tafel. Ich versuche für die dreiköpfige Familie aus Madrid Patriques Französisch ins Spanische zu übersetzen. Derzehnjährige Jon kriegt vor Bewunderung große Augen, weil ich scheinbar mit drei Sprachen jongliere. Er weiß aber nicht, dass ich fast alles, was der Franzose sagt, aus seinen Gesten errate. Nur hin und wieder verstehe ich wirklich ein Wort. Herrlich, auf dem Camino Kindern zu begegnen – sie sind so leicht zu beeindrucken!
»Jon«, sage ich.
»¿Si?«
»Ich bin so froh, dass wir hier sitzen. Weißt du, warum?«
»Nein, wieso?«
»Ich habe mich besorgt gefragt, wie wir von da oben an unser Essen kommen sollen. Schau!«
Er folgt meinem Blick zu den antiken Stühlen, die hoch an der Wand an Haken hängen, und grinst mich in jener unbestimmten Weise an, mit der Kinder signalisieren, dass sie dich für kindischer halten, als sie es selbst sind.
Fünf Spätankömmlinge verpassen das Abendessen, finden aber in unserem abgeschiedenen Idyll noch Zuflucht vor dem überlaufenen Palas de Rei. Drei stammen aus Sevilla, wo die anderen beiden herkommen, weiß ich nicht. Um zehn Uhr gehe ich an den schlafenden madrileños und sevillanos vorbei zu Bett Nummer 10 am Ende des makellos sauberen ehemaligen Schweinestalls. Ich nehme die Zahnbürste von meinem Kissen, bleibe aber stehen, als einer der Neuankömmlinge mich vom Nebenbett anspricht.
»Entschuldige, bist du Anne?«
»Ja, die bin ich. Bist du aus Deutschland?«
»Ja. Aus Dresden.«
»Entschuldigung, ich habe es mitbekommen. Ich kenne dich auch«, gesteht eine Stimme aus Hamburg.
Nein, denke ich, nicht zum ersten Mal. Ihr kennt mich nicht. Ihr wisst bloß, wie ich
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