Ich bin da noch mal hin
Kirchenmauer begrüßt uns am Ende unserer Reise ein Dudelsackpfeifer mit keltischen Weisen. Ich bleibe vor dem Eingangsbogen stehen und blicke die Treppen hinunter ins Dunkel. Im Licht am Ende des Tunnels erkenne ich Jane, meine Schwester, und meine Freundin Liz, die hoffnungsvoll jeden Pilger anblicken, der von der untersten Stufe auf die Plaza del Obradoiro tritt. Ich bin schon halb unten, als sie mich entdecken und die Treppe heraufgerannt kommen.
»Toll, dass du es noch einmal geschafft hast! Ganz alleine! Alles Liebe und auf dein Wohl, peregrina! X. Dein Freund Hans«
Ganz alleine? Nicht ganz, Hans. Das erkläre ich später.
Zur mittäglichen Pilgermesse in der Kathedrale bin ich zu spät gekommen. Aber für die beiden anderen Rituale, die formell die Pilgerreise abschließen, habe ich heute noch Zeit.
»¡Llévale, romerico, a Santiago un abrazo!« (Bring, Pilger, Sankt Jakob eine Umarmung!), hatten wir in León gesungen, und das musste ich jetzt erledigen.
Ein heiliges Jahr ist für den Camino immer dann, wenn der Jakobstag (25. Juli) auf einen Sonntag fällt, aber weil dieses Ereignis noch mehr Pilger und Touristen in die ohnehin beliebte Stadt zieht, ist es heute nicht so einfach wie 2001, den heiligen Jakob zu umarmen. Von unserem Cafétisch auf der Plaza de la Quintana aus haben Jane und ich zugesehen, wie die Schlange sich durch die Puerta Santa schob. Diese Tür an der Rückseite der Kathedrale wird nur im heiligen Jahr geöffnet, und zwar als einziger Zugang zur Statue und zum Grab des heiligen Jakob. Angesichts der Besuchermassen ist es nicht möglich, wie vor neun Jahren durch die Kathedrale zu schlendern und unvermittelt auf den heiligen Jakob zu stoßen.
»Vom Ende der Schlange dauert es vierzig Minuten bis zur Tür«, sagt Jane, »und fünfzehn Minuten von da aus«, fügt sie hinzu und deutet auf die Mitte der Schlange.
Wir warten, bis das Ende der Schlange »da« angelangt ist, und laufen dann über den Platz, um uns einzureihen.
In einem schmalen, dunklen Korridor hinter dem Altar blickt die Santiago-Statue aus dem 13. Jahrhundert das lange Kirchenschiff hinunter bis zur zweiten Skulptur am Pórtico de la Gloria (Ruhmestor). Der dortige Santiago grüßt die Pilger, die von der Plaza de Obradoiro hereinkommen. Ich lehne mich an den knubbeligen Metallmantel des Apostels und schließe die Hand um eine Jakobsmuschel an seinem Schulterblatt. Als ich über seine Schulter durch die Kirche blicke, bemerke ich den botafumeiro , der aufreizend still über den Altartreppen von der Kuppel herabhängt.
Bitte lass ihn morgen schwingen. Bitte! , wünsche ich mir, bevor ich durch das Schiff und unter dem Ruhmestor durchgehe, um mir meine compostela zu holen.
Ich erklimme die steilen Steinstufen im dunklen Stiegenhaus der Casa del Deán an der Rúa do Vilar. Ausgerüstet mit meiner kostbaren Sammlung unterschiedlichster sellos stelle ich mich in die Schlange der Pilger, die ihrer compostela aufgeregt näher und näher rücken. Ich bin bereit zu gestehen, dass ich von Burgos nach Villafría wegen mangelnden Weitblicks den roten Bus der Linie 8 genommen habe. Doch die resoluteAngestellte hinter dem Schreibtisch stellt mir überhaupt keine Fragen. Sie will nicht einmal wissen, wie um alles in der Welt ich am ersten Tag sechzig Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port nach La Trinidad wandern konnte, sondern breitet einfach nur meine beiden credenciales aus, um zu überprüfen, ob die Reihenfolge meiner vierundachtzig sellos plausibel ist. Dann trägt sie meine Daten in ihren Computer ein und überreicht mir meine compostela . Das braun-weiße, in Lateinisch verfasste Dokument besagt, dass ich, Dnam Annam Butterfield, am 16. Juli des Annus Sanktus 2010, in Santiago de Compostela eingetroffen bin.
Samstag, 17. Juli 2010
In der Kathedrale von Santiago de Compostela
Unter den Tausenden von Touristen, die unablässig von Norden, Westen und Süden durch die Kathedralentüren drängen, sind die Pilger schwer auszumachen. Es ist elf Uhr morgens und schon jetzt sind für die Pilgermesse am Mittag nur noch Stehplätze zu bekommen. Das Stimmengewirr ist ohrenbetäubend, und Kirchendiener mühen sich vergeblich, uns ruhig zu halten.
»Pssst«, zischen sie bei jedem dritten Schritt durch den Raum.
In ihrer Nähe verstummen die ertappten Sünder dann so lange, bis die Wärter weitergehen, worauf sie ihre Gespräche vergnügt wieder aufnehmen.
Die Kirche hat ihre eigene Methode, die ungeduldige Gemeinde zu
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