Ich bin da noch mal hin
unterhalten. Ein Priester tritt ans Mikrofon und beschwört die widerstrebenden Schäfchen stur, zu singen. Zunächst singen wir falsch, aber er schmettert geduldig den Refrain und betont unermüdlich die unvorhersehbaren Tonhöhen- und Tempomodulationen, um sich anschließend unsere zaghaften, oftmals wiederholten Versuche anzuhören. Als wir die sperrige Melodie schließlich beherrschen, ist er begeistert und lässt uns den Refrain immer und immer wieder, lauter und lauter singen, bis wir dauerhaft mit ihm Schritt halten können.
»Caminaré en la presencia del Señor en el país de la vida.« (Ich werde in der Gegenwart Gottes im Land des Lebens wandeln.)
»Der Camino«, sagt der Priester, »ist Gerechtigkeit, Liebe, Solidarität und Frieden.«
Eng anliegende rote Kopfbedeckungen, die sich durch die dichte Menge schieben, sind das erste Anzeichen des Einzugs von Priestern und Bischöfen. Sie nehmen die reservierten Plätze beiderseits des Altars und unter einem gewissen Pilger namens heiliger Jakob ein. Von seiner funkelnden Nische im Hauptaltar beobachtet der edelsteingeschmückte Apostel den feierlichen Klerus. Von weiter oben überblickt Santiago Matamoros das Ganze. Die Sinneseindrücke sind so überwältigend, dass ich die Begrüßung nur halb mitbekomme. Ein Priester verkündet, »viele Pilger« aus »vielen Ländern« – Spanien, Frankreich, Deutschland, Holland – seien in den vergangenen vierundzwanzig Stunden aus Saint-Jean-Pied-de-Port, Roncesvalles, Pamplona, Ponferrada und O Cebreiro eingetroffen. Hat die Angestellte in der Casa del Deán gestern vergessen »Return« zu drücken, als sie meine Ankunft aufnahm? Dass die englischen Pilger unterschlagen werden, verstimmt mich ein wenig, doch ich tröste mich rasch mit dem Gedanken, dass ich zu den »vielen Pilgern aus Saint-Jean-Pied-de-Port« zähle.
»Was bedeutet uns das heilige Jahr? Welche Bedeutung haben diese Feierlichkeiten?«, fragt der Priester in der Predigt. »Es ist eine Gelegenheit, die uns das Schicksal bietet, unser Leben zu ändern«, fährt er fort. »Es ist eine Chance, zu einem spirituellen Leben zurückzufinden und es mit unserem äußeren Leben in Einklang zu bringen. Lasst uns Verantwortung für andere ebenso übernehmen wie für uns selbst, und für eine humanere und gerechtere Gesellschaft arbeiten, in der jeder Mensch all seine Möglichkeiten entfalten kann. Wir müssen handeln und nicht bloß zuhören!«
Dem stimme ich zu, muss mir aber eingestehen, dass die Kluft zwischen meinem spirituellen und meinem äußeren Leben gerade durch eine bohrende Unruhe vergrößert wird. Bewegt sich der botafumeiro heute oder nicht? Die acht tiraboleiros , Männer, deren Aufgabe es ist, das größte Kathedralen-Räuchergefäß der Welt zum dramatischen Abschluss der Messe über dem Querschiff in Schwingung zu versetzen, sind nirgends zu entdecken. Ist der heutige 17. Juli nah genug am Jakobstag, um als besondere, dieses atemberaubenden Anblicks würdige Gelegenheit zu gelten?
»Mit dieser Messe und dem Empfang der Sakramente ist die Pilgerreise zu Ende«, verkündet der Priester.
Oh nein! Der botafumeiro wird nicht schwingen. Das schwere Silberbehältnis hängt genauso reglos wie gestern.
»Diese Kathedrale ist berühmt für …«, fährt der Priester fort. »Solche äußeren Zeichen brauchen wir als Symbol unseres Innenlebens.«
Die tiraboleiros springen irgendwo in der Menge auf und entrollen schnell die acht gesicherten Zugseile. Ein Kranz rostroter Roben hebt und senkt sich bei jedem Anziehen und Lockerlassen der Seile, und der riesige botafumeiro nimmt Fahrt auf. Er schwingt in einem weiten Bogen über dem Querschiff, und die entzückten Gemeindemitglieder schnappen nach Luft und applaudieren. Anschließend breitet sich eine schwingende Weihrauchspur in der Kathedrale aus, von der Plaza de la Inmaculada bis zur Plaza de las Platerías.
»Pilgerschaft: Der Ort, wo dich das Leben lehrt …«
Der Camino hat seinen Pilgern gezeigt, wie man an diesem Ort lebt. In seiner Welt zu leben, wenn auch nur für kurze Zeit, löst das Gefühl aus, das ich jetzt empfinde. Ich habe es in León im Gesichtsausdruck des Engels Gabriel wahrgenommen. Ich bin in Ruitelán zu seiner Melodie aufgewacht. Ich erkenne es jetzt im wunderbaren Schwingen des botafumeiro . Es ist das einzige Wort auf der Karte, die Shelagh 2001 Hans gegeben hat. Es ist alegría! Freude!
»There is a love in me raging
Alegría! A joyous, magical feeling.«
(In mir bebt die
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