Ich bin da noch mal hin
mehr Probleme habe als nur ein entzündetes Kniegelenk.
»Als ich das erste Mal über den Camino gewandert bin, kamen mir die Radler so unbeschwert vor. Aber jetzt bin ich dauernd auf der Hauptstraße unterwegs, nicht auf dem Weg der Wanderer, und ich muss immer Umwege machen, um nicht alle Sehenswürdigkeiten zu verpassen.«
»Welche Sehenswürdigkeiten denn?«
»Alles, was man eben auf dem Weg der Wanderer so mitbekommt: Römerstaßen, malerische Städtchen, den Weinbrunnen in Irache …«
»Da haben wir unseren Wein her!«, rufen sie und schwenken ihre Wasserflaschen. »Die haben wir dort gefüllt, um hier das Ende unserer Reise zu feiern!«
Nun lächeln wir alle, ich allerdings bloß aus nachempfundener Freude. Offenbar wirke ich niedergeschlagen, denn die hellsichtige Pilgerin aus Cádiz stellt ihr Weinglas ab, ohne zu trinken.
»¡Déjala!«, sagt sie. »Lass es stehen. Lass das Fahrrad zurück. Geh zu Fuß.«
»Schick es mit der Post von Logroño aus nach Hause«, fügt ihre Freundin aus Toledo hinzu.
Ich bin geneigt zu glauben, dass jemand, der aus der Stadt von El Greco stammt, mit mystischem Tiefblick ausgestattet sein muss und man einfach auf ihn hören sollte.
»Meint ihr wirklich?«
»Hör zu«, antwortet die Pilgerin aus Toledo bestimmt, »der Mensch muss sich immer wieder neu einstellen. Nur wer sich immer wieder neu einstellt, kommt im Leben zurecht. Wer sich nicht anpasst, fängt irgendwann an, alles im Leben anzufauchen.«
Und sie faucht mich wie eine Katze an, nur für den Fall, dass ich nicht verstanden habe. Aber ich habe verstanden.
Sie heben ihre Flaschen mit dem Wein aus Irache, und ich gehe, ihre Worte im Herzen, ins Hotel zurück. Das Rad mit der Post nach England schicken? Wie viele Briefmarken da wohl draufkommen?
Montag, 14. Juni 2010
Ich radle 28 Kilometer von Los Arcos nach Logroño
War es hier?, frage ich mich. Ich stehe auf dem Paseo del Príncipe de Vergara und blicke hinauf zur Statue des Prinzen von Vergara, Baldomero Espartero, auf seinem überlebensgroßen Pferd. Oder hier, auf der Plaza de San Bartolomé? Als keine der plazas in meinem Kopf irgendeine Erinnerung heraufbeschwört, setze ich meinen Weg durch die Calle de los Portales fort. Ich suche den Platz in Logroño, an dem Hans mich 2001 zum ersten Mal bemerkt hat. Vielleicht hier, auf der Plaza del Mercado? Momentan ist kein Markt, aber damals war auch keiner. Stattdessen ragt auf einer Seite des Platzes die Kathedrale von Santa María de la Redonda auf. Finster blickt sie über die an den anderen drei Seiten aufgereihten Bars hinweg. Der Platz ist verlassen, und ich bin immer noch nicht sicher, ob dieser unbelebte Ort das ist, was ich suche. Es ist erst siebenUhr abends, aber alle Cafés sind geschlossen. Die Rollläden sind mit Vorhängeschlössern gesichert. Erst als ich mir Tische und Stühle auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Falstaff und dem La Negrita vorstelle, wird mir klar, dass tatsächlich hier Hans vor neun Jahren versucht hat, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Ich weiß bloß noch, dass ich an einem Tisch draußen vor dem Café Falstaff gerade eine Postkarte an meinen Bruder schrieb. Hans berichtet über die Episode, er habe mich am Nebentisch entdeckt, »eine lustige kleine Pilgerin, mit kurz geschorenen roten Haaren«, mit der er »zu gerne … ins Gespräch kommen« wollte. Offenbar habe ich sein Lächeln die ersten beiden Male ganz freundlich erwidert, ihm jedoch auf den dritten Blick hin den Rücken zugekehrt, als wäre er der schmierige Horst Schlämmer, die Figur, die er später geschaffen hat. Eigentlich stimmt es nicht, dass ich ihn abgewiesen habe, wie Hans es beschreibt. In Wahrheit ging mir zu viel im Kopf herum, als dass ich ihn überhaupt wahrgenommen hätte. Und dabei wollte ich so gerne nette Menschen kennenlernen.
Wenn Hans an diesem Abend in Logroño ein Gespräch mit mir beginnen wollte, warum hat er es nicht einfach getan? Dann hätten wir uns gleich zusammengefügt wie zwei Puzzleteile, anstatt noch drei Wochen warten zu müssen, bis wir uns dann schließlich in Astorga fanden. Ein Mann, der verkleidet als Königin Beatrix der Niederlande versucht, ins Schloss Bellevue zu kommen, kann doch nicht so schüchtern sein, oder? Also warum hat er mich nicht wenigstens gegrüßt? Englisch spricht er genauso gut wie ich, an der Sprachbarriere kann es nicht gelegen haben. Sein einleitendes Gegrinse hinterließ bei mir keinen bleibenden Eindruck, und seine zaghaften Versuche,
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