Ich bin da noch mal hin
gibt ihn mir, ohne Fragen zu stellen. Wahrscheinlich wirke ich nun wie eine Ein-Mann-Band: Einen Eisbeutel zwischen die Knie geklemmt, nippe ich an meinem Kaffee, esse ein mit Vanillecreme gefülltes Croissant, krame Schmerztabletten aus meiner Tasche und lese dazu El País . Robert Green musste gestern Abend nur eines tun, diesen lahmen Ball stoppen, doch er versagte. Sein Schicksal verdüstert sich während seines kläglichen Gangs in die Kabine zur Halbzeit: »Un viacrucis para él, enfocado por todas las cámaras del estadio.« Un viacrucis? Ein Kreuzweg? In Ros’ dramatischer Schilderung wird Robert Greens Agonie gar zur Passion Christi stilisiert. Sämtliche Kameras des Stadions sind auf seine »tränennassen grünen Augen« gerichtet, in denen sich eine »nicht enden wollende Qual« ausdrückt. Am Ende des Berichts habe ich selbst Tränen in den Augen. Zum Glück ist er nicht noch länger. Ich fühle mich wie Roberts Mutter. Tatsächlich habe ich angefangen, ihn in Gedanken »Robert« zu nennen. Einfach nur »Robert«.
Die Ladeninhaberin im Cosi Todo schaut auf die Postkarte, die ich ausgesucht habe – sie zeigt die Barockorgel –, und tippt den Preis in die Kasse.
»Die ist wirklich was ganz Besonderes«, sagt sie. »Wenn Sie jetzt gleich hingehen, können Sie sie bei der Mittagsmesse in Aktion erleben.«
Die prächtige Renaissancekirche Santa María ist bis auf den letzten Platz mit Gläubigen im Sonntagsstaat gefüllt. Man kann den Organisten, der den frommen Gesang der Gemeinde mit dem kraftvollen Spiel der Orgel begleitet, vor dem reich geschmückten Instrument kaum ausmachen. Die Kirche begnügt sich auch nicht mit nur einem einzigen retablo (Altargemälde). Vom funkelnden retablo mayor im Altarraum lächeln und winken freundlich eine Maria und ihr Jesuskind aus dem 13. Jahrhundert. Direkt rechts von mir ist ein weiteres retablo , das die ganze Seitenwand der Kirche einnimmt. Seine golden schimmernden Säulen scheinen die ganze Kirche zu tragen. Er ist von mehr Heiligen bevölkert, als man im Himmel vermutet. Wie heißen die bloß alle? Die cognoscenti erkennen sie an ihren Attributen: Eine große Pfeilspitze, ein Zweig oder eine Zange. Ich habe keine Ahnung, wen die Figuren darstellen, bete aber insgeheim zur »Heiligen der Radfahrer« (das ist die mit der Zange) und bitte sie um Durchhaltevermögen. Ich stemple mein credencial mit dem sello von Los Arcos und freue mich, dass er den retablo mit Maria und dem aufmunternd winkenden Jesus darstellt.
Hinter meinem Hotel entdecke ich einen zweiten Platz. Dieses kleine Städtchen besitzt offenbar alles in doppelter Ausführung: zwei retablos , zwei plazas , zwei Hotels. Ich setze mich mit meinem Kaffee zu drei schick gekleideten Spanierinnen an den Tisch. Sie sind so herausgeputzt, dass man sie eher für Hochzeitsgäste als für Pilger halten würde, wären da nicht ihre Wanderschuhe. Ihre gute Laune wirkt ansteckend, also spreche ich sie an.
»¡Hola! Zieht ihr heute noch weiter?«
»Nein, hier ist für uns Endstation. Wir warten auf den Bus nach Logroño«, sagt eine der Frauen, die eine ordentlich gebügelte cremefarbene Hose und eine Safarijacke trägt.
»Ach, ihr kommt aus Logroño?«
»Nein. Ich bin aus Toledo und meine beiden Freundinnen hier stammen aus Cádiz.«
»Warst du dort schon mal?«, fragt eine der drei.
»Ja. Ich bin nach meinem letzten Camino mit dem Zug nach Toledo gefahren, um mir die Bilder von El Greco anzuschauen.«
»Wir fahren morgen alle von Logroño aus nach Hause«, erklärt die Frau aus Cadiz. »Machst du etwa den ganzen Weg bis Santiago?«
Sie sieht mir tief in die Augen, als könnte sie meine Gedanken lesen.
»Bueno …«, stottere ich, fast unhörbar.
Sie beugt sich vor und schaut mich so eindringlich an, dass ich das Gefühl habe, splitternackt vor ihr zu stehen. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt. Ihre beiden Freundinnen blicken mich mitfühlend und neugierig an. Es hat keinen Sinn, ihnen etwas vorzumachen. Ohne jedes Selbstmitleid platze ich heraus: »Ich lege heute einen Ruhetag ein. Meine Knie tun mir schon weh, seit ich von Roncesvalles aus über die Pyrenäen geradelt bin. Außerdem kann ich sowieso nicht weg, weil meine Kleider vom Regen gestern noch ganz nass sind.«
»Du bist also mit dem Fahrrad unterwegs? Und, macht es Spaß?«
»Es ist nicht ganz einfach. Mein Knie macht mir jetzt noch mehr zu schaffen als in den Bergen.«
Die drei Freundinnen schauen mich schweigend an. Sie spüren, dass ich
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