Ich bin da noch mal hin
und die unablässig an mir vorbeibrausenden Autos waren ein Klacks, verglichen mit dem Azqueta-Tunnel-Vorfall kurz hinter dem Kloster Irache. Die Straße verlief nun flach, sodass ich mir schon Hoffnungen machte, zügig nach Arcos zu kommen. Bis ich vor mir den dunklen Schlund des Tunnels erblickte. Ich stieg vom Rad und kramte meine Lampen aus den Satteltaschen. Hätte mich in diesem Moment ein Lastwagen überfahren, wäre es die letzte Tat meines Lebens gewesen, ein rotes Rücklicht in seine Halterung zu schieben. Statt einen solch banalen Tod zu riskieren, hätte ich besser einen anderen Weg wählen sollen, schoss es mir durch den Kopf, aber da war ich schon längst dabei, so schnell ich konnte durch die schwarze Röhre zu rasen. Dabei schrie ich einen Pilgerruf, der sich meiner Kehle ganz von selbst ohne bewusste Beteiligung meines Gehirns entrang: »¡Qué Dios me ayude! ¡Qué Dios me ayude! ¡Qué Dios me ayude! ¡Qué Dios me ayude!« (Gott steh mir bei!) Ich schrie so lange, bis ich am anderen Ende des Tunnels wieder ins Tageslicht kam, wo ich mein Rad als Erstes neben der Straße in die Grasböschung warf.
Sicherlich hat Gott mein Leben allein deshalb verschont, weil mir in einem solchen Moment höchster Lebensgefahr der spanische subjuntivo eingefallen ist. Kein einziges Auto kam in diesen wenigen Sekunden durch den Tunnel gebraust. Trotzdem saß mir die Angst so in den Knochen, dass ich mich schluchzend wie in einer Pietà -Darstellung über mein Fahrrad warf. Der Schreck wich aber bald dem Zorn, und statt Gott für mein Überleben zu danken, stieg in mir eine nicht ganz unwichtige und aufschlussreiche Frage auf. »Warum tue ich mir das eigentlich an?«
Auf dem folgenden ruhigen Straßenabschnitt konnte ich mich ein wenig von meinem kleinen Nervenzusammenbruch erholen. Im strömenden Regen machte ich auf einem Hügel in etwa zwei Kilometern Entfernung die düstere Burgruine von Villamayor aus, aber ein seit dem Azqueta-Tunnel neu hinzugekommenes Stechen in meiner Hüfte hielt mich davon ab, einen Umweg zu machen. Bei Urbiola hielt ich auf einem Scheitelpunkt der Straße für eine kurze Pause an. Als ich vom Rad stieg, um es gegen die Mauer eines wegen Renovierung geschlossenen Cafés zu lehnen, spürte ich, wie in meinen untauglichen Doc Martens das Wasser um meine Füße schwappte. Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf das Gute – das Wasser, in dem gerade meine Zehen verschrumpelten, war wenigstens warm.
Ich hatte keine andere Wahl, als nach Los Arcos weiterzufahren. Das einlullende Auf und Ab der Weizenfelder erinnerte mich an eine andere Straße, auf der ich einst durch die amerikanische Prärie gefahren war. Dies schien ein sehr privater, aber auch sehr einsamer Camino zu werden.
Sonntag, 13. Juni 2010
Los Arcos
Graue Wolken hängen über dem Platz. Schwalben streichen dicht an meinem Gesicht vorbei und lassen sich in den plátanos del paseo unter meinem Balkon nieder. Ein dritter Schnabel lugt aus dem cigüeña -Nest auf dem Kirchendach. Das Storchenbaby und das bereits geöffnete Café auf der anderen Straßenseite verlocken dazu, länger in Los Arcos zu verweilen. Der stechende Schmerz, der sich schon auf der ersten Treppe bemerkbar macht, lässt mir nur zwei Möglichkeiten – ein künstliches Kniegelenk oder einen Tag Ruhepause. Also gehe ich zur Rezeption und buche eine weitere Nacht im Hotel Mónaco. Die Erleichterung, die mir diese kleine Aktion verschafft, ist Beweis genug, wie sehr mein Körper sich nach Ruhe sehnt. Sie enthält noch eine weitergehende Botschaft, der Gehör zu schenken ich in diesem Augenblick aber noch nicht bereit bin.
In der Hoffnung, dass die frische Luft den Zigarettenqualm vom gestrigen Abend samt der Niederlage Englands aus meinen Kleidern bläst, schlendere ich zum Café hinüber. Eigentlich war es ja ein Unentschieden, aber es fühlt sich wie eine Niederlage an. »Der englische Torhüter steht unter einem Fluch«, titelt El País über einem fesselnden Spielbericht von Cayetano Ros, der aus dem unglücklichen Robert Green den Helden einer Lorca-Tragödie macht. Auch wenn man viel von Fußball versteht, so Ros, bleibt immer ein Geheimnis, das sich jeder Erklärung entzieht. Und das zeigte sich gestern mal wieder in Greens Fehler: »… einer jener Patzer, die das Ende einer Karriere bedeuten können.« Ich will nicht an den Untergang von Robert Green denken, also humple ich erst einmal zum Tresen und bitte um einen Beutel Eiswürfel. Der Kellner
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