Ich bin da noch mal hin
nötigen spanischen Sätze hervorkrame.
»¡Buenos días!«, beginne ich und versuche, meine zitternde Stimme fest klingen zu lassen.
»¡Buenos días!«, entgegnet er lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«
Eine umfassende Antwort auf diese Frage würde ihn den ganzen Tag in Anspruch nehmen. Da ich kein Wort herausbringe, drehe ich mich nur um und zeige auf das Regal mit den Wanderstiefeln hinter mir. Nach seiner sachverständigen Interpretation meiner Zeichensprache zu schließen hat Guillermoschon öfter Frauen am Rande eines Nervenzusammenbruchs Wanderstiefel verkauft.
»Welche Schuhgröße haben Sie?«, fragt er, während er mit mir zu den Regalen geht.
»Also, diese Schuhe sind Größe 37«, entgegne ich mit Blick auf meine pelzbesetzten Doc Martens mit dem weißen Wasserrand, der meine Dummheit grausam zur Schau stellt.
Er knallt vier Paar Synthetikstiefel auf den Tisch, und dann beginnt meine Wandlung. Mit jedem Paar, das ich probiere, wird ein Stück weit realer, dass ich eigentlich eine Wanderin bin. Um meine Wiedergeburt komplett zu machen, empfiehlt Guillermo einen Dreißig-Liter-Rucksack.
»Da werden meine Sachen kaum reinpassen«, erkläre ich.
»Was da nicht reinpasst, sollten Sie nicht mitnehmen«, antwortet er trocken.
Als ich in die Albergue Puerta del Revellín zurückkehre, wirft Blanca einen Blick in meine riesige Einkaufstüte, schaut dann in meine trüben Augen und ergreift meine Hände.
»Setzen Sie sich! Setzen Sie sich!«, befiehlt sie.
Dann nimmt sie mir die Tüte ab, zieht einen Stuhl herbei, holt für sich selbst auch einen und setzt sich mir gegenüber. Dabei lässt sie mich diese ganze Zeit über nicht los. Selbst als ich Platz nehme, hält sie immer noch meine Hände. Das ist Blancas erstes Wunder.
»Ich wollte Ihnen schon nahelegen, das Fahrrad hier zu lassen«, verrät sie, »aber ich sehe, Sie haben selbst diese Entscheidung getroffen.«
»Woher wussten Sie …?« Ich schniefe, nehme meine Brille ab und wische meine Tränen weg.
»Wenn Sie wüssten, wie viele traurige, einsame Radfahrer hier schon angekommen sind!«
»Ach! Wirklich viele?«
»¡Si! Und auch viele junge!«
»Junge? Tatsächlich?«
»¡Si, hay muchos! (Ja, viele!) Sie fahren mit ganz bestimmten Vorstellungen los und müssen dann feststellen, dass alles ganz anders ist.«
»Genau das ist mir passiert! Ich dachte, den Camino mit dem Rad zu machen, wäre einfacher, als zu laufen wie damals. Aber es ist schwerer, viel schwerer.«
»Das stimmt. Die Radfahrer haben viel mehr Probleme als die Wanderer. Und wenn sie allein sind, ist es noch schlimmer. Nicht viele Frauen radeln allein wie Sie. Da muss man in einer Gruppe sein, in der man einander helfen kann.«
»Das weiß ich jetzt auch. Und noch etwas, Blanca – es ist ja nicht mal der Camino! Wissen Sie, wie weit abseits des Camino die Straße verläuft? Gonzalo hat mir erklärt, in Burgos wird es noch schlimmer!«
»Ach, Sie waren bei Gonzalo? Gut gemacht. Er ist sehr hilfsbereit. Aber jetzt brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Sie haben sich richtig entschieden.«
»Aber Blanca, ich bin zweiundfünfzig. Ich hätte das vorhersehen müssen. Warum mache ich immer wieder so blöde Fehler?«
»Sehen Sie doch mich an! Ich bin dreiundsechzig und mache immer noch Fehler! Und ich bin froh darüber! Wissen Sie, warum?«
»Warum denn?«
»Weil das bedeutet, dass ich noch lebe!«
»Aber ich bin den Camino doch schon gegangen. Diesen Fehler hätte es nicht gebraucht!«
»Das ist egal. Die einzigen Menschen, die nie Fehler machen, sind die, die überhaupt nichts tun. Ich habe diese Herberge vor einem Jahr eröffnet, weil ich nicht sein will wie sie. Wir müssen aktiv bleiben. Ich werde Fehler machen, bis ich sterbe.«
Blancas Worte erfüllen mich mit dem Optimismus, der mir unterwegs, irgendwo zwischen Trinidad und Logroño, abhandengekommen war. Das ist Blancas zweites Wunder.
»Also«, meint sie dann, »packen Sie in ihren neuen Rucksack, was reinpasst, und lassen Sie den Rest mit dem Fahrrad zusammen hier.«
Zwei Stunden später befestigen wir die schweren Packtaschen und die Satteltasche in der dunklen bodega an meinem Fahrrad und schließen die Tür hinter uns. Tasche 1 und 2 mit den umfangreichen Listen existieren nicht mehr. Die Satteltasche ist Geschichte. Und das Fahrrad, na ja …
»¡Hasta la vista!« (Bis dann!)
Blanca ist noch nicht fertig mit mir. Sie schickt mich zum Busbahnhof, damit ich erkunde, welche Gesellschaft mich und
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