Ich bin da noch mal hin
das Fahrrad am Ende meines Camino von Logroño nach Bayonne bringen wird. Den ganzen Nachmittag über jagt sie mich herum wie ein Tischfußballfigürchen, aber ich bin eine gefügige Spielerin. Ihre Freundlichkeit hat meinen gewohnten Widerstand Autoritäten gegenüber so mühelos aufgeweicht wie eine Kerzenflamme einen Ärmel verbrennt. Als ich mit den hochwichtigen Auskünften des Busunternehmens Estellesa zurückkomme, reicht sie mir eine Liste von Telefonnummern, damit ich meine Hotelübernachtung in Logroño im Juli buchen kann. An der Wand hinter ihrem Rezeptionstisch steht auf einem handgeschriebenen Schild »Hospitalera: Blanca«. Besser wäre »Santa: Blanca«.
»Gracias por todo«, sage ich.
»Ich habe gar nichts gemacht. Jetzt gehen Sie was essen und schauen ein bisschen Fußball«, sagt sie, scheucht mich fort und widmet sich wieder ihrer Arbeit, bereit, heute Abend neue Pilger willkommen zu heißen.
Im El Albero verfolge ich auf dem Bildschirm, wie Nordkorea Brasilien im Fußball zu schlagen versucht – ein noch unrealistischeres Unterfangen als meine hirnverbrannte Idee, nach Santiago zu radeln. Die Trennwand des comedor, des Gastraums, ist mit Fotos der Beatles und Marilyn Monroe gepflastert. Alle strahlen so glücklich, als würde ihr zauberhaftes Leben nie zu Ende gehen. Und doch sind drei dieser Leben bereits vorbei, endeten zu früh und zu tragisch. Ich hole tief Luft und freue mich daran, dass ich ohne das Fahrrad länger leben werde.
»Auf das Leben«, denke ich, als ich mein Glas Rioja hebe und über Blancas Bescheidenheit nachgrüble. »Ich habe gar nichts gemacht«, hat sie gesagt. Blanca hat (unter Mithilfe von Gonzalo und Guillermo) alles getan, um meine Hoffnung wieder aufkeimen zu lassen. Der Camino hat mir die Frage gestellt: »Wer bist du?« Sicher bin ich mir immer noch nicht, aber eines weiß ich – dass ich morgen mit den anderen Pilgern zusammen den gelben Pfeilen folgen werde, auf dem Weg der Wanderer.
La Rioja
Logroño – Santo Domingo de la Calzada
Mittwoch, 16. Juni 2010
Logroño - Navarrete | 13 Kilometer
Freitag, 18. Juni 2010
Nájera - Santo Domingo de la Calzada | 20,8 Kilometer
Samstag, 19. Juni 2010
Santo Domingo de la Calzada
Mittwoch, 16. Juni 2010
Ich wandere 13 Kilometer von Logroño nach Navarrete
Als an diesem Morgen die deutschen Christen aus meinem Schlafsaal vor Blancas Herberge Lieder anstimmen, mache ich gerade meine ersten Schritte auf dem Camino. Meine ersten Schritte . Endlich habe ich zu einer aufrechten Körperhaltung zurückgefunden, und meine Füße scheinen in den weichen Socken und elastischen Schuhen regelrecht zu schweben. Ich fühle mich wie neugeboren. So muss es unserer berühmtesten zweibeinigen Ahnfrau Lucy ergangen sein, als sie aus dem Geäst auf festen Boden sprang.
Diese Bäume behindern nur unser Fortkommen, wird sie gedacht haben. Wenn wir im Leben was erreichen wollen, müssen wir gehen.
Und so wurden Lucy und ihre Spezies, Australopithecus afarensis, zu den ersten Pilgern. Was sehr zu ihrem Vorteil war.
Erstes Opfer meines Jagdtriebs ist ein Kaffee – das hätte Lucy vor drei Millionen Jahren in der afrikanischen Savanne sicherlich genauso gehalten. Um neun Uhr betrete ich das Café Moderno, eine Stunde später sitze ich immer noch dort. Die Kellnerin hat alle Hände voll zu tun. Ich bin an diesem trüben Morgen so glücklich darüber, einfach nur am Leben zu sein, dass ich still meinen Kaffee genieße und ohne Murren auf mein Thunfisch-Brötchen warte. Ich kann es mir leisten, geduldig zu sein, denn ich habe beschlossen, meinen ersten Tag als Wanderpilgerin geruhsam anzugehen und nicht weiter als bis Navarrete zu marschieren, das dreizehn Kilometer von Logroño entfernt liegt.
Das Café Moderno ist alles andere als modern. Die Holzvertäfelung und der Marmor stammen noch aus dem Jahr 1914, als es unter dem Namen Café Madrid eröffnete. Die Uhr mit der runden Walnusseinfassung, die von der Decke hängt, nervt mich. Ihre Ziffern und Zeiger sind so groß, dass ich das Verstreichen der Zeit nicht ignorieren kann. Wäre das Frühstück noch ein wenig später gekommen, hätte ich das Gefühl gehabt, seit Beginn des Ersten Weltkriegs darauf zu warten. Auf einmalhabe ich es mit dem Losgehen so eilig, dass ich die eine Hälfte des Brötchens für später in den Rucksack stopfe und die andere so schnell hinunterwürge, wie Lucy dereinst wahrscheinlich ihre Früchte verschlungen hat.
Bevor ich das »Fahrraddebakel« und
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