Ich bin da noch mal hin
betrachten »das da«. Es ist eine Schalttafel ohne Blende mit blanken Drähten, der ich mich nicht einmal in Gummistiefeln und Gummihandschuhen mit einem Holzstöckchen nähern würde. Daneben klebt ein Zettel mit der englischen Aufschrift: »Don’t touch!« (Nicht berühren!)
»Da steht ›Nicht berühren‹!«, erklärt Paco auf Englisch.
»Ich dachte, damit ist was anderes gemeint«, sagt Kim kläglich unter dem Stirnrunzeln von Paco.
Was anderes? Was denn?
Paco stempelt gerade die credenciales der Neuankömmlinge ab, als ich auf dem Weg zum Lokal nebenan an der Rezeption vorbeikomme.
»Um wie viel Uhr ist denn heute die Abendmesse, Paco?«, frage ich.
»Keine Ahnung. Ich bin aus Barcelona.«
Darüber muss ich noch lachen, als ich auf die gepflasterte Passage unter der Kolonnade trete. In der Bar Los Arcos erkenne ich eine Frau wieder, die mit dem heutigen Tag ebenso zufrieden zu sein scheint wie ich. Ich habe sie unter der Plane mit dem El Peregrino Pasante gesehen. Das Weltmeisterschaftsspiel im Fernsehen läuft erst seit fünf Minuten, als ich mich mit meinem Bier an den rauchenden Fußballfans von Navarrete vorbeischiebe und mich an den Tisch dieser freundlichen Pilgerin setze.
»Hallo! Wir kennen uns doch! Hast du mir nicht dort draußen im Weinfeld Schinken angeboten?«
»Ja, das war ich. Und ich kenne dich auch.«
Klar kennt sie mich, wir haben uns doch erst vor drei Stunden gesehen.
»Freut mich, dich hier zu treffen. Ich heiße Anne.«
»Ich weiß.«
»So?«
»Ja. Hast du den Camino nicht schon mal 2004 gemacht?«
»Nein, 2001.«
»Mit Hape Kerkeling?«
»Ja! Das bin ich.«
Ewelina stammt aus Stuttgart und ist genauso erpicht darauf wie ich, ihren Camino mit der Weltmeisterschaft unter einen Hut zu bringen. Ich gehe wie selbstverständlich davon aus, dass sie in diesem Spiel für Spanien ist, weshalb ich nicht mit ihrer Reaktion auf das absurde Tor der Schweiz gegen unser Gastland in der zweiten Halbzeit rechne.
»Hurra!«, ruft sie, verschluckt den Freudenschrei aber aus Respekt vor den bestürzten Dorfbewohnern.
»Ewelina! Du bist für die Schweiz?«
»Ich wohne nur hundertfünfzig Kilometer von der Schweiz entfernt«, antwortet sie. Ihre Augen leuchten immer noch.
»Nach dieser Logik müsste ich für Frankreich sein. Von mir aus sind es kaum fünfzig Kilometer über den Kanal«, stelle ich fest, und dann stoßen wir auf die Schweiz an.
Der Sieg der Schweiz über Spanien ist die bislang größte Überraschung der WM. War es bloß ein Glückstreffer, vielleicht gar ein Wunder, oder doch nur der gerechte Lohn dafür, dass die Schweizer dem Angriff der Spanier so lange standgehalten haben? Ich bevorzuge letztere Interpretation, weil sie so gut mit meiner übereinstimmt und zu meiner Erfahrung dieses Tages passt: Gib niemals vor dem Schlusspfiff auf. Vielleicht stellst du fest, dass der Erfolg die ganze Zeit zum Greifen nahe war und nur auf dich gewartet hat. Nicht am Anfang, nicht mittendrin, aber am Ende. Wozu ist es dann überhaupt gut, mittendrin zu sein? Ich beschließe, einen Camino-Priester danach zu fragen und lasse Ewelina mit Brigitte aus München, die sich auch zu uns gesetzt hat, am Tisch zurück.
Es regnet wieder, aber die Kirche bietet mir keinen Schutz, weil ich nicht hineinkomme. Ich stehe vor der Treppe untermeinem Regenschirm und warte ab, bis die gefühlt gesamte Einwohnerschaft von Navarrete aus der Kirche geströmt ist. Sie drängen sich um einen Leichenwagen, in den Träger gerade einen braunen, rautenförmigen Sarg hineinschieben. Langsam setzt sich der Leichenzug in Bewegung, und ich bleibe allein auf der Schwelle zurück, sehr beeindruckt davon, wie viele gekommen sind, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Ich kann nur hoffen, dass auch zu meiner Beerdigung eines Tages so viele Menschen erscheinen werden. Gar nicht so einfach, in einer einzigen Lebensspanne ein paar Hundert Freunde zusammenzubekommen, aber nun, da ich endlich auf dem Weg der Wanderer unterwegs bin, habe ich eine Chance auf ein langes Leben und darauf, noch viele Menschen kennenzulernen.
Der Friedhof liegt am Ortsrand, wohin man den Tod gerne verbannt, um seine Allgegenwart verdrängen zu können. Ich beschließe, mein Abendessen zu verschieben, bis die Trauergäste zur Abendmesse zurückkommen, und sitze noch ein wenig auf einer Kirchenbank. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Die gewaltige Kirche aus dem 16. Jahrhundert ist Marias Himmelfahrt gewidmet.
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