Ich bin da noch mal hin
Ganz oben auf dem retablo nähert sie sich, von ziemlich rosigen Cherubim umringt, den himmlischen Gefilden. Mit Schrecken stelle ich fest, dass dieses riesige barocke Meisterwerk, das bis hoch hinauf zur Kirchendecke mit Blattgold überzogen ist, keine Spur in meiner Erinnerung hinterlassen hat. Dass ich mich nicht mehr an das Interieur der Bar in Los Arcos erinnere, mag noch angehen, aber das hier vergessen zu haben, grenzt schon an Beschränktheit. Ein Kunstwerk dieser Art wäre in England so berühmt wie Stonehenge oder der Londoner Tower und würde von überall her Besucher anlocken. Aber auf dem Camino und in ganz Spanien schmücken die prächtigsten retablos noch die kleinste Dorfkirche. Meine protestantischen Neigungen gehen nicht so weit, die Zerstörung all dieser unschätzbaren Meisterwerke in meinem Land gutzuheißen. Ich bin sogar beinahe froh, dass die Reformation sich nicht in allen Teilen Europas durchgesetzt hat und freue mich über die Altäre des Camino, wo immer ich ihnen begegne.
Direkt vor dem retablo sitzt eine Gruppe betender Frauen. Ich lasse mich in ihrer Nähe nieder und warte auf die Rückkehr des Trauerzugs – vergebens. Der Priester nimmt sich offenbar viel Zeit, den Bewohnern der Stadt über ihren Verlust und unser aller Sterblichkeit hinwegzuhelfen. Die Frauen stimmen ein Lied an.
»Santa María, Madre de Dios, ruega por nosotros, pecadores, ahora y en la hora de nuestra muerte. Amen.« (Heilige Maria, Muter Gottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.)
Es ist ein Rosenkranzgebet, das vom Tod handelt. Ausgerechnet an dem Tag, an dem meine Lebensfreude zurückgekehrt ist, macht Navarrete den Tod zum Tagesthema. Ich öffne mein »Gelbes Buch«, um vor Beginn der Messe noch ein wenig zu lesen, und stoße auf diese tragische Stelle: »Die modern gestaltete Tafel an der [Friedhofsmauer] erinnert an die belgische Pilgerin Alice de Craemer, die hier im Jahr 1986 ums Leben kam, als sie mit dem Fahrrad nach Santiago unterwegs war.«
»Alice! Oh nein!« Mir läuft ein Schauder über den Rücken. »Hättest du nur dein Fahrrad in Logroño gelassen und wärst zu Fuß weitergegangen, dann würdest du heute noch unter uns weilen.«
Hochblickend sehe ich Maria, die immer noch gen Himmel steigt, und hoffe ernsthaft, dass sie für Alice in der Stunde ihres Todes gebetet hat. Inzwischen glaube ich, dass jeder Pilger, der sich auf den Weg nach Santiago macht, ganz gleich, ob er dort ankommt oder nicht, sich einen Platz im Himmel verdient hat.
Die einlullenden Rosenkranzgebete wirken auf mich wie das Gesumme der Insekten an einem Sommertag und versetzen mich in einen tranceähnlichen Zustand. Da verlässt eine der Frauen den Gebetskreis und begrüßt den Priester, der endlich doch vom Friedhof zurückkehrt ist. Die Frauen gehen aus der Kirche, woraus ich schließe, dass die Abendmesse heute wohl aufgrund des Begräbnisses ausfällt. Der Priester nimmt in einem Holzverschlag Platz, schaltet das Licht ein und vertieft sich in ein Buch, das vor ihm auf einem Lesepult liegt. Die kleine Kabine sieht nicht wie ein Beichtstuhl aus, sie hat eine Halbtür, die den Blick auf den Oberkörper des Priesters freilässt. Wäre da nicht das Priestergewand, man könnte ihn glatt für einen Parkplatzwärter in seinem Häuschen halten.
Der Priester achtet zunächst nicht auf mich. Erst als ich der Kabine so nah bin, dass ich sie berühren könnte, klappt er sein Buch zu und schaut auf.
»Entschuldigen Sie«, spreche ich ihn vertrauensvoll an. »Wenn es so ist, dass der heilige Jakob wahrscheinlich nie in Spanien war und die ganze Geschichte nur eine Legende ist, was ist dann der eigentliche Sinn des Camino?«
Er antwortet nicht, sondern schaut mich nur eine halbe Ewigkeit mit unverhohlenem Verdruss an. Was mache ich da schon wieder? Mein erster Tag als Wanderin, und schon bringe ich mich in eine peinliche Situation.
Wir starren uns lange genug an, dass ich das komplizierte Muster seines Priesterrocks studieren kann. Das prunkvolle cremefarbene Gewand ist in Handarbeit reich mit Baumwoll- oder vielleicht sogar Seidenfäden bestickt. Gut zu wissen, dass die katholische Kirche weiterhin auf Naturstoffe und nicht auf billige Synthetikgewebe setzt. Der Priester würde nicht annähernd so viel Würde ausstrahlen, wenn er in billige Kunstfaser gekleidet wäre. Sein Eau-de-Cologne erfüllt die Holzkabine mit dem Duft von Lavendel und freier Natur. Da wäre ich jetzt auch gerne, in der freien
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