Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
Vom Netzwerk:
nahrhaftes Essen, niemand, dem ich mich unterwerfen müsste, aber stets beherzigenswerte Ratschläge – all dies gehört wie selbstverständlich zum Camino. Die vermeintliche Lebensgefahr auf dem Fahrrad verhinderte jeden »Schlaf, der sanft die Nacht umspannt«, aber seit Logroño sind meine Nächte »sorgenfrei« gewesen.
    Die Kulisse zu meinem gestrigen Abendessen mit Alison und Ian bildete Englands jüngste Niederlage gegen Algerien. Die Gruppe von Deutschen an unserem Tisch schaute irgendwann gar nicht mehr hin, sondern widmete sich ganz dem befriedigenderen Genuss von Cruzcampo-Bier.
    »Ich glaube, ich bleibe morgen hier«, verkündete ich meinen Freunden unvermittelt. »Ich möchte gern die Samstagabendmesse besuchen und erleben, wenn dieser Hahn kräht. Treffen wir uns am Dienstag in Burgos zum Mittagessen. Ich schreibe euch eine SMS, wann ich ankomme.«
    Heute morgen um acht Uhr, als Alison und Ian am parador und der Kathedrale vorbei in Richtung Belorado losmarschieren, beziehe ich ein Einzelzimmer in der Hospedería Cisterciense, die von den gleichen Nonnen geführt wird, die in der Klosterherberge die schlafenden Pilger zählen. Hier kann ich ganz in Ruhe meine Familie anrufen und mir berichten lassen, was es daheim Neues gibt. Ich erfahre, dass sich meine jüngste Schwester, Elizabeth, in den letzten zehn Tagen um histologische Untersuchungen sorgte, die sich an eine Operation anschlossen.
    »Elizabeth, das ist schrecklich. Du hast geglaubt, du könntest Krebs haben? Warum hat mir das niemand erzählt?«
    »Wir wollten dich nicht beunruhigen. Du hattest doch schon genug Probleme mit dem Fahrrad. Die Ergebnisse waren in Ordnung.«
    »Ach, Elizabeth, was für ein Albtraum! Gott sei Dank, dass du gesund bist.«
    Elizabeths Ängste um ihre Gesundheit haben mich so betroffen gemacht, dass ich eine ganze Weile still dasitze. Nur ein einziger Gedanke kreist in meinem Kopf, eine Sicherheit, wie sie mein zweifelnder Geist noch nie erlebt hat: Man braucht den Sinn des Lebens nicht zu kennen, um es zu lieben. Der Zweck des Lebens ist, gelebt zu werden. Alle weitere Bedeutung verleihen wir ihm selbst, und sie ist für jeden von uns eine andere. Dem Leben meiner Schwester gibt ihre Familie seinen Sinn. In meinem Leben ist die treibende Kraft ironischerweise die endlose Suche nach seinem Sinn. Diese Überzeugung, dass das Leben nicht nur eine einzige Bedeutung hat, sondern unzählige, so viele, wie es Menschen gibt, empfinde ich als gleichwertig jeder religiösen Offenbarung. Der meiner Schwester neu geschenkte »tüchtige Leib« hat mir den »friedvollen Sinn« wiedergegeben.
    An diesem Nachmittag spähe ich in der großartig renovierten Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada durch die Gitterstäbe des Grabmals des Heiligen. Das Alabastermausoleum aus dem 15. Jahrhundert leuchtet im grellen Scheinwerferlicht, das der Grabstätte nichts von ihrer Großartigkeit nimmt, sondern der unbestreitbaren Reputation des Heiligen noch zusätzlich Glanz verleiht. Santo Domingo wurde 1019 nicht in dieser Stadt, die seinen Namen trägt, geboren, sondern in dem nahe gelegenen Dorf Viloria de la Rioja. Seine Berufung zum Benediktiner-Eremiten hielt den barmherzigen Mönch nicht davon ab, den Pilgern, die auf dem Weg nach Santiago vorbeizogen, hilfreich zur Seite zu stehen. Schon sein Name, Santo Domingo de la Calzada (Sankt Dominik von der gepflasterten Straße) trägt der Tatsache Rechnung, dass er zur Erleichterung für diegeplagten Pilger eine Brücke, eine Herberge und eine Straße gebaut hat. Seine Güte wurde legendär und nach seinem Tod (am 12. Mai 1109) kursierten unter den mittelalterlichen Pilgern bald Geschichten über seine Wundertaten.
    Ein schönes und doch schreckliches, kunstvoll in den Alabaster des Heiligengrabes geschnitztes Relief zeigt eine herzzerreißende Wunderszene. Ein Jüngling, der unschuldige Pilger Hugonell, hängt am Galgen, zu Unrecht verurteilt, einen Silberkelch gestohlen zu haben. Seine verzweifelten Eltern verlassen, von untröstlicher Trauer gebeugt, den Schauplatz des Schreckens. Der Legende nach hat das Paar im Weggehen Hugonell sagen hören, Santo Domingo stütze seine Füße. Hugonell lebte noch! Der Dorfrichter, der gerade zu Abend aß, als Hugonells Eltern zu ihm eilten, glaubte ihre Geschichte nicht und antwortete mit den bekannten Worten: »Ihr Sohn ist so lebendig wie diese gebratenen Vögel, die ich gleich essen werde!« Genau in diesem Moment sprangen das Hühnchen und das

Weitere Kostenlose Bücher