Ich bin da noch mal hin
ausschließlich europäische Art mit Namen Homo antecessor .
Die wissenschaftliche Debatte interessiert mich nicht. Ich fühle mich meinen Cousins und Cousinen aus grauer Vorzeit in jedem Fall verbunden. Obwohl sie keine direkten Vorfahren von mir sind (da ihre Linien letztendlich zum Aussterben verurteilt waren), sind diese Ureuropäer ein Ast meines Familienstammbaums. Wir alle stammen von Lucy ab, sind sogar so eng verwandt, dass wir der gleichen Gattung Homo angehören. Ich stelle mir vor, wie sie in der Hoffnung, einen riesengroßen Elch mit ihren Speeren zu erledigen, grüppchenweise auf eben jenem Pfad marschieren, auf dem nun ich entlangwandere. Fasthöre ich, wie sie über die Hitze klagen und überlegen, ob sie in eine kühlere Gegend ziehen sollen. Dann fällt mir wieder ein, dass es in der Eiszeit hier nirgends so heiß war, also stelle ich mir stattdessen vor, dass sie im Laufschritt unterwegs sind, um sich warm zu halten.
Einige Pilger, Barbara und Ewelina zum Beispiel, fühlen sich auf dem Camino unseren Vorfahren verbunden. Barbara will in Eunate sogar die »Energie« der Schritte mittelalterlicher Pilger gespürt haben. Auf der Wanderung durch das Tal der Steinmännchen bei Navarrete fühlte sich auch Hans all jenen verbunden, die vor ihm dort gegangen waren. Ich habe nie Vergleichbares erlebt wie diese empfindsamen Deutschen, weder 2001 noch auf diesem Camino. Aber die bekannte Geologie und meine Identifikation mit den ausgestorbenen Vorfahren sind so aufrüttelnd, dass ich nicht umhin kann, mit den ersten Einwohnern dieses Landes ein Schwätzchen zu halten.
»Wenn ihr es zu Fuß von Afrika nach Atapuerca geschafft habt«, sage ich zu ihnen, beeindruckt von ihrer langen Pilgerreise, »dann schaffe ich es ja wohl bis Burgos.«
Ich übertreibe ihre Leistung ein wenig, denn immerhin brauchten sie eine Million Jahre bis Atapuerca und haben den Weg in kleinen Etappen über Tausende von Generationen zurückgelegt. Doch solche Details verdunkeln nur ihre inspirierende Funktion. Und ich brauche Inspiration.
»Dieser Weg, auf dem wir jetzt gehen«, rufe ich, als ich ein weites Plateau mit Grasbüscheln und verstreuten Kalksteinfelsen erreiche, »ist Teil des Camino, ein Pfad, der sich über achthundert Kilometer von den Französischen Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela in Nordwestspanien erstreckt.«
Die einzigen anderen Homo sapiens in dieser Sierra habe ich vor ein paar Minuten getroffen. Sie sind außer Sichtweite, ich kann also darauf vertrauen, dass niemand meine Anfeuerungsrufe hören wird. Am Ende fällt die Hochebene in ein Becken ab, in dem sich Weizenfelder bis zum Horizont erstrecken. Von einem Steinbruch steigen rötliche Staubwolken in den blauen Himmel. Ich eile in die Ebene hinab und rezitiere dabei die gesamte Legende des heiligen Jakob. Als ich damit zu Ende bin, erreiche ich eine glänzende Asphaltstraße.
»Jakob wurde im Landesinneren bestattet und vergessen. Achthundert Jahre später folgte Pelayo der Eremit einem Sternenkranz bis zum Leichnam des Santiago, wie er in Spanien genannt wird. Die Grabstätte erhielt den Namen Compostela, Sternenfeld, und über dem Grab wurde eine Kathedrale errichtet. Aus ganz Europa begannen Menschen zum heiligen Jakob zu pilgern. Seit über zwölfhundert Jahren kommen die Pilger. Was haltet ihr davon?«
Schweigen. Ein Hänfling und seine beiden zappeligen Jungen hüpfen unruhig auf einem Ast eines Akazienbäumchens in der Hecke herum. Mein Monolog hat mich auf dem Weg über den heiligen Boden der Sierra de Atapuerca abgelenkt, doch nun treten die Schmerzen in den Vordergrund. Die hinteren Oberschenkelmuskeln meines rechten Beines weigern sich, es zu strecken, und die entzündete Achillessehne schreit nach einer Kortisonspritze. Meinem Versprechen an den Homo antecessor zum Trotz werde ich nicht bis Burgos laufen können.
Ein blau-weißer Doppeldeckerbus in der nächsten Kurve der gewundenen Straße hält nicht, was er verspricht. Er steht verlassen da, und das »Wartehäuschen« ist keine Bushaltestelle, sondern nur ein Blechdach über einem Tisch und sechs verchromten Stühlen. Daneben stehen zwei Getränkeautomaten. Ich nehme an, wenn ich mich hinsetze, wird Magrittes Riesenschildkröte über meinen Kopf hinwegfliegen oder winzige Männchen mit Bowlerhüten werden vom Himmel herabschweben. Bis auf das Surren der Automaten und das Klirren der Flasche, die im Ausgabefach landet, herrscht vollkommene Stille. Ich gruppiere sorgsam die
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