Ich bin da noch mal hin
Plauderei und lauschten der Legende seines Wirkens im vierten Jahrhundert. Als Bischof von Myra, das heute in der Türkei liegt, hatte er viel Großherzigkeit bewiesen, besonders gegenüber Kindern. Damals geschah es, so erzählte uns Hilary, dass ein armer Vater seinen drei Töchtern offenbarte, ihnen bliebe nach ihrem fünfzehnten Geburtstag nichts anderes übrig, als sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution zu verdienen. Am Vorabend des Tages, an dem das älteste Mädchen fünfzehn wurde, schaffte jemand heimlich einen Sack voll Geld in das Haus, sodass die junge Frau stattdessen heiraten konnte. Einige Jahre später wiederholte sich der wundersame Geldsegen mit der mittleren Tochter und ersparte auch ihr ein trauriges Schicksal. In der Nacht vor dem Geburtstag seiner jüngsten Tochter versteckte sich der Vater, der wissen wollte, wer der stille Wohltäter war. Und so ertappte er den Bischof Nikolaus, der versuchte, sich davonzuschleichen, nachdem er sein großzügiges Geschenk abgelegt hatte!
Durch Wohltaten wie diese wurde aus dem heiligen Nikolaus der Weihnachtsmann, der nicht nur den Kindern am Heiligen Abend Geschenke bringt, sondern auch weltweit zur Vermarktung der unterschiedlichsten Produkte wie Coca-Cola oder Schreibwaren der Marke Parker genutzt wird.
Jodie und Lisa sitzen offenbar noch auf der Bank in Itero de la Vega und arbeiten an ihrer Beziehung, denn wir sehen sie nicht hinter uns. Wir wandern frohgemut den breiten Weg entlang, der von blauen Kornblumen, hohen gelben Malvenstauden und gelegentlich auch von Pappelreihen gesäumt ist, hinter denen sich Spinatfelder erstrecken. Unser Gespräch kreist um die Frage, wie der Camino die Menschen verändern kann. Einig sind wir uns darin, dass sich nichts ganz von allein ändert. Der Camino wirkt nicht wie ein Zaubertrick. Wenn wir wieder zu Hause in unserem gewohnten Umfeld sind, haben unsere Bestrebungen, uns zu verändern, oft keine Chance, auchwenn sie noch so ernst gemeint sind. Wir nehmen unsere Arbeit wieder auf, schlüpfen in die alten Rollen und reagieren so wie immer. Dadurch verblassen die Lektionen des Camino, wenn wir nicht rechtzeitig dafür sorgen, bewusst und konsequent eine neue Richtung einzuschlagen. So war es mir zum Beispiel unmöglich, meinen 2001 gefassten Vorsatz, »für andere Menschen da zu sein«, aufrechtzuerhalten, als eine Bande von »ausgelassenen« Schülern meinen Mini schaukelte, während ich am Steuer saß.
»Was willst du machen?«, fragt sie.
»Schreiben. Ich will versuchen, Reiseberichte zu schreiben. Das muss ich einfach ausprobieren.«
Der Spinat wird von Brachflächen und Getreidefeldern abgelöst. Vor uns zeigen sich drei Hügel, die in dieser total flachen Landschaft seltsam künstlich wirken. Die läppischen fünfzig Meter Anstieg spüren wir nach den Strapazen des gestrigen Tages gar nicht. Hinter den Hügeln erstrecken sich ungepflügte Äcker, so weit das Auge reicht. Vega heißt »fruchtbares Tal«, und ich glaube gern, dass es das auch ist, aber hier und da ein Pflänzchen wäre schon nicht schlecht. Ganz ohne außer Atem gekommen zu sein, erreichen wir die leeren Gässchen von Boadilla del Camino, Einwohnerzahl zweihundertachtundfünfzig. Collins und Miranda sitzen an einem Plastiktisch vor einem Café und lesen. Das geräumige Lokal, ausgestattet mit genügend rot-schwarzen Stühlen und Tischen, um die gesamte Bevölkerung von Boadilla auf einmal zu bewirten, ist abgesehen von der Kellnerin hinter dem Tresen leer. Alles – die Flaschen mit den alkoholischen Getränken, die Dosen mit den Süßigkeiten, die Zapfhähne und die Kuchentheke – ist blitzsauber.
»Haben Sie Sprudelwasser?«, frage ich, ganz freundliche Pilgerin.
»¡No!«, herrscht mich die Kellnerin an. »¡Sólo normal!«(Nur normales!)
Hilary und ich werfen uns einen Blick zu.
»Ich mache das schon, Anne«, sagt Hilary im Geist des heiligen Nikolaus. »Was möchtest du denn?«
» Café con leche und ein Croissant, bitte. Ich warte draußen.«
Der Fernseher neben der spanischen Flagge zeigt die Höhepunkte des spanischen Drei-zu-zwei-Siegs über Chile, des Spiels, das ich gestern Abend sausen ließ, weil die spirituelle Erfahrung mit dem heiligen Nikolaus so viel spannender war. Ich würde mir gerne jeden Spielzug, jedes Foul und jedes Tor anschauen, aber ich habe keine Lust, die Gesellschaft meiner Freunde gegen die eisige Atmosphäre hier drin einzutauschen.
»Meine Güte! Was ist denn mit der los?«, frage ich Collins und
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