Ich bin da noch mal hin
komme. Ich werde die Güte an erste Stelle setzen und versuchen, im Sinne des »Ihr sollt einander lieben, so wie ich euch geliebt habe« zu leben.
Das entspricht der Antwort des Dalai Lama, wenn man ihn bittet, den Buddhismus zu erklären: »Meine Religion ist Güte«, sagt er dann immer.
Ich schlafe glücklicher ein als in allen anderen Nächten meines Camino und erwache erst, als die übrigen Gäste schon an dem langen Tisch sitzen und mit dem Besteck klappern.
Palencia
Hospital de San Nicolás – San Nicolás del Real Camino
Samstag, 26. Juni 2010
Hospital de San Nicolás bei der Puente de Itero - Frómista | 14,7 Kilometer
Sonntag, 27. Juni 2010
Frómista - Carrión de los Condes | 19,3 Kilometer
Montag, 28. Juni 2010
Carrión de los Condes - San Nicolás del Real Camino | 32,1 Kilometer
Samstag, 26. Juni 2010
Ich wandere 14,7 Kilometer vom Hospital de San Nicolás bei der Puente de Itero nach Frómista
An diesem Morgen erscheine ich als Letzte am Frühstückstisch. Ich bin allerdings nicht die Letzte, die die Herberge verlässt. Meine Mitpilger tauschen Toastbrot kauend ihre E-Mail-Adressen aus, um San Nicolás bloß nicht zu schnell hinter sich zu lassen.
Den zögerlichen Aufbruch meiner compañeros nehme ich als Beweis dafür, dass die tiefen Gefühle des gestrigen Abends tatsächlich echt waren – sie haben uns alle ergriffen und wirken bis zum Morgen nach. Der Heilige Geist hat uns noch nicht verlassen. Christian verteilt Feedback-Bögen, was uns noch zusätzlich aufhält. Selbst der Camino kommt nicht ganz ohne Bürokratie aus.
»Aber Christian«, seufze ich, »den habe ich doch schon vor neun Jahren ausgefüllt!«
»Du musst einen neuen ausfüllen! Wann warst du denn hier?«
»Im Juni 2001.«
»Vielleicht haben wir den Bogen noch. Ich schaue mal nach.«
Er geht nach oben und kramt im Archiv der Herberge. Meine Wandergefährten schildern bereits eifrig ihre Eindrücke, aber ich sehe mich außerstande, die großen Gefühle des gestrigen Abends in die vorgegebenen Zeilen zu quetschen. Ich konnte mich noch nie kurz fassen.
Christian kommt mit einem prall gefüllten blauen Ordner zurück. Er enthält die Feedback-Bögen der Pilger aus dem Jahr 2001 und ist schon bei meinem aufgeschlagen, der vom 23. Juni stammt.
»So, da haben wir dich, Anne.«
»Oh nein!«, stöhne ich. »Typisch. Ich habe einen ganzen Aufsatz geschrieben.«
Nachdenklich an einem Finger knabbernd lese ich die Einschätzungen der Person, die ich vor neun Jahren war. Ich runzle die Stirn, als ich auf die Schilderung meiner Motive für meine Pilgerreise 2001 stoße:
»Les contaré a ustedes cuando alcanze yo a Santiago. Pero en éste momento la razón es aprender vivir por otra gente.« (Das werde ich erst in Santiago sagen können. Im Augenblick möchte ich nur lernen, für andere Menschen da zu sein.)
Wie peinlich! Dieses Jahr werde ich keine Zeile hinterlassen. Mein Motiv war, zu »lernen, für andere Menschen da zu sein«? So sehr ich das damals vielleicht gewollt habe, in der realen Welt bin ich an diesem Anspruch gescheitert. Hat mir der Camino nicht eigentlich gezeigt, dass ich eine von W. H. Audens »Anderen« bin – eine von den Schwachen, die Hilfe brauchen, nicht geben? Still lese ich den Rest meines frommen Bekenntnisses:
»Es gab einige unvergessliche Augenblicke auf diesem Camino: Santo Domingo, wo mich die Lebensgeschichte des Heiligen die Bedeutung der Nächstenliebe lehrte und wo der Priester eindrucksvoll über die Liebe Jesu sprach; San Juan de Ortega, wo uns der Priester Knoblauchsuppe (!) servierte und mit uns über unsere Motivation für den Camino redete, und schließlich Burgos, wo der Priester aus der Einsiedelei San Amaro mich frühmorgens mit den Worten aus dem Bett warf: ›¡No pensarlo! ¡Fuera!‹ (›Nicht nachdenken! Raus!‹) Aber hier, hier habe ich den wahren Sinn des Camino live erlebt …«
Was hat denn Shelagh damals geschrieben? Ich finde ihre Motive ein paar Seiten weiter.
»Um die Erfahrung des Unterwegsseins zu machen
Sie in mein neues Leben mitzunehmen
Mut für Veränderungen zu finden
Mich meiner vier Wünsche zu vergewissern.
Vielen Dank für diese wunderbare Erfahrung.«
Ob sie ihre Ziele besser verwirklichen konnte als ich? Da werde ich sie wohl fragen müssen.
Ich gehe zu meiner Schlafkoje und hole das Buch von Hans aus dem Rucksack, um es Christian zu zeigen. Er runzelt die Stirn, bis er schließlich den Namen des Autors auf dem Umschlag entdeckt.
»Ah, das
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