Ich bin da noch mal hin
Miranda und setze mich zu ihnen.
»Sehr freundlich ist die wirklich nicht«, sagt Hilary, die mit unserer Bestellung über den Hof gelaufen kommt.
»Vielleicht kann sie keine Pilger mehr sehen«, mutmaße ich, stehe auf und ziehe mir eine Limonade aus dem Automaten, der wahrscheinlich hier steht, weil es drinnen keine Sprudelwässerchen gibt.
Wir hören Schritte. Das können nur Jodie und Lisa sein.
»Hi!«, rufen wir alle wie aus einem Mund.
Sie lassen ihre Rucksäcke zu Boden fallen. Lisa sucht einen Tisch aus und überlässt es der ahnungslosen Jodie, sich mit der Kellnerin herumzuschlagen.
»Da bin ich ja mal gespannt«, sage ich zu unserer kleinen Runde.
Kurz darauf kommt Jodie aus dem Café. Sie verzieht das Gesicht, als hätte man sie vergiftet.
»Herrje! Was ist denn mit der los? So was von unfreundlich!«
Wir rätseln noch über die Frostigkeit der Kellnerin, als unsere drei australischen Freunde, die in Neuseeland leben (außer Cathy, die in Australien lebt, und Steve, der tatsächlich Neuseeländer ist), auf die Terrasse schlendern. Cathy nimmt an einem Tisch Platz, während Lynn und Steve die Getränke besorgen.
»Jetzt passt mal auf«, sage ich, und wir halten alle den Atem an und freuen uns schon im Voraus auf den Anblick der beleidigten australisch-neuseeländischen Pilger.
»Was ist denn mit der los?«, wundert sich Steve und knallt die Tassen auf den Tisch.
»Ihre Arbeit macht ihr wohl keinen Spaß«, vermute ich.
»Dann sollte sie sich etwas anderes suchen«, schimpft Steve, der seine Worte nie auf die Goldwaage legt.
Lynn und Steve erzählen uns, wie sie sich in den Siebzigerjahren als Rucksacktouristen in Afrika kennenlernten, eine ebenso faszinierende wie schreckliche Geschichte. Eines Tages tauchte bei ihrem Zeltplatz in Uganda Idi Amin mit seinem gesamten Gefolge in einem Konvoi aus Armeefahrzeugen auf. Die verblüfften jungen Touristen wurden eingeladen, mit der Flotte des Präsidenten durchs Land zu fahren, eskortiert von Schnaps trinkenden Soldaten. Sie konnten dieses unheimliche »Angebot« schwerlich ausschlagen. Natürlich sollte so verhindert werden, dass sie etwas von den Gewalttaten Amins zu sehen bekamen. Aber es klappte nicht – Steve erzählt uns, dass sie während einer Dorfhochzeit einen Stapel Leichen hinter einem Gebäude entdeckten. Sie bekamen es mit der Angst zu tun und suchten nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Wie seid ihr da rausgekommen?«, wollen wir wissen.
»Wir konnten ein Taxi nach Zaire organisieren«, antwortet Lynn.
»Und wart ihr dort in Sicherheit?«
»Halbwegs«, antwortet Steve, »aber ein Mädchen aus unserer Gruppe starb an einer Überdosis Chloroquin, als wir in Nigeria ankamen. Sie war erst achtzehn.«
»Und mich haben sie ins Gefängnis geworfen, weil ich den Medizinschrank nach irgendwas durchwühlt habe, das ihr helfen kann«, bemerkt Lynn ohne jede Regung. »Am Ende hat uns das australische Hochkommissariat in Lagos rausgepaukt.«
Was für ein Urlaub.
Die Kellnerin kommt mit einem leeren Tablett aus ihrem Bau, um abzuräumen. Sofort verstummt das Gespräch, und wir quittieren jede Tasse und jeden Löffel, die sie einsammelt, mit einem Lächeln. Und auf einmal, ganz unversehens, lächelt sie strahlend zurück. Ist die Veränderungskraft des Camino vielleicht wirklich grenzenlos?
Es sind nur noch sechs Kilometer bis Frómista, sodass den meisten von uns viel Zeit bleibt, die Hauptattraktion von Boadilla zu besichtigen, die Kirche Santa María. Collins und Miranda, die insgesamt fünfzig Kilometer bis Calzadilla de la Cueza zurücklegen wollen, haben allerdings keine Zeit zuverlieren. Ich sehe sie an der Kirche vorbeilaufen, und dann sind sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wer könnte mit ihnen mithalten? Wäre Miranda allein unterwegs, so hätte ich ihr davon abgeraten, in Calzadilla zu übernachten, aber mit Collins an ihrer Seite wird bestimmt niemand wagen, sie anzufassen. Ich hingegen werde es in zwei Tagen vermeiden, dort Quartier zu machen. Und zwar aus gutem Grund.
Jedes Feld des retablo mayor der Kirche stellt mittels einer Plastik oder eines Gemäldes eine Szene aus dem Leben Marias dar. Die Dielen sind so wacklig, dass ich fast hinfalle, als ich zu einem zweiten retablo trete, der die Passionsgeschichte darstellt. Ich kann der reichen christlichen Bildsymbolik des Camino durchaus etwas abgewinnen, doch jetzt berührt mich die Geschichte von Jesu Leiden und seiner anschließenden Wiederauferstehung nicht sonderlich.
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