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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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trage.
    Die historische Einsiedelei San Nicolás ist von der Confraternita di S. Jacopo di Compostella aus Perugia liebevoll renoviert worden. Vor neun Jahren wuschen zwei italienische hospitaleros aus dieser Bruderschaft mir als Symbol christlicher Nächstenliebe die Füße. Heute ist es Christian, der die braune, mit Jakobsmuscheln verzierte Jacke trägt. Ich bin als Erste an der Reihe, denn ich sitze in dem Hufeisen, das wir bilden, dem Altar am nächsten. Christian kniet sich vor mich hin, hält meinen Fuß über eine weiße Schüssel und gießt aus einem Metallkrug Wasser über meinen nackten Spann.
    »Anne, im Namen Christi, ich heiße dich in der Gastfreundschaft des San Nicolás willkommen. Möge er dich auf deinem Weg nach Santiago sicher geleiten«, sagt er mit seinem ruhigen deutschen Akzent.
    »Danke, Christian«, flüstere ich.
    Er tupft meinen Fuß mit einem Leinentuch trocken und rutscht, immer noch in der Hocke, weiter zu der Pilgerin neben mir, Jodie. Unsere sonnengebräunten Gesichter leuchten im Kerzenschein. Während Christian sich von Pilger zu Pilger bewegt, brechen Gefühle auf, viele von uns haben Tränen in den Augen. Als er schließlich bei Dario, dem letzten Pilger auf der anderen Seite des Altars, angelangt ist, glaube ich fast die Liebe Gottes zu spüren. Doch in Wirklichkeit nehme ich nur die starke Solidarität unter Menschen wahr, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Den Camino zu gehen, so scheint es, hat in jedem von uns eine Liebe zu allen geweckt, die sich ebenfalls nach Santiago durchkämpfen. Unsere Menschlichkeit tritt zu Tage und mit ihr unsere tiefsten Gefühle der Verbundenheit und des Wohlwollens. Auf eine fast überwältigende Weise identifizieren wir uns miteinander, und ich erlebe einen Augenblick der Liebe zu allen Menschen, ob bekannt oder unbekannt, unterschiedslos.
    Kaum wage ich, diesen Gedanken weiterzudenken, aber ich tue es doch. Ich frage mich, ob das der gleiche Gefühlszustand ist, in dem die Jünger sich befanden, als sie verzückt den Heiligen Geist empfingen? Wahrscheinlich machten sie für die Tiefe ihrer Gefühle den Heiligen Geist verantwortlich, wobei sie in Wirklichkeit in der innigen Freude an ihrer Gemeinschaft im Glauben vereint waren. Selbst bei diesem spirituellen Höhenflug bleibe ich der Überzeugung, dass meine vorübergehende Glückseligkeit nur eine seltene Begegnung mit einem ungewöhnlich hohen Grad menschlicher Verbundenheit ist. Trotzdem, es ist eine ganz eigene Erfahrung. Ich denke, es ist die »brüderliche Liebe«, die zu entwickeln Jesus uns auferlegt hat. Nun sehe ich die Jünger in einem neuen Licht. Ich habe das Gefühl, zu wissen, was in sie gefahren war.
    Bei den Gefühlen, die die Zeremonie in mir auslöst, ist es mir fast unheimlich, dass Christian uns zum Schluss das hölzerne Herz zeigt, das er um den Hals trägt. Er erzählt, dass er es kurzzuvor in einer Bar von einem Mann bekommen hat, der ihn gebeten habe, es nach Santiago zu bringen. Christian sagt, es repräsentiere in seinen Augen den Sinn des Camino – unsere Herzen zu öffnen und zu handeln, wie Jesus es gebot, als er seinen Jüngern beim letzten Abendmahl die Füße wusch: »Ihr sollt einander lieben, so wie ich euch geliebt habe.«
    Beim Abendessen geht es an unserem Ende des Tisches, wo außer mir Christian, Dario, Cathy und Jodie sitzen, lebhaft zu. Christian nennt mich eine »spirituell suchende Atheistin« und will wissen, wie ich weitermachen kann, ohne den Sinn des Lebens erfahren zu haben.
    »Aber ich weiß doch, was der Sinn des Lebens ist«, behaupte ich unter dem Einfluss des Weins.
    »Und der wäre?«
    »Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst«, verkünde ich.
    Dann vertraue ich ihm an, dass meine Schwester Elizabeth mir, als ich in Santo Domingo war, erzählt hat, sie habe zehn Tage lang in der Angst gelebt, vielleicht Krebs zu haben.
    »Als sie mir schließlich sagte, die Untersuchungsergebnisse seien negativ, begriff ich sofort, dass der Sinn des Lebens ist, es zu leben.«
    »Aber an unserer Existenz muss doch mehr dran sein. Was ist zum Beispiel mit dem Gewissen?«, fragt Jodie.
    »Neuronen, die in unseren Gehirnen feuern. Weiter nichts«, entgegne ich und mampfe meine Pasta-Gemüse-Pfanne.
    Als ich an diesem Abend in San Nicolás einschlafe, bewegen mich immer noch die heute geschlossenen Freundschaften. Ich habe fest vor, die Erfahrung menschlicher Solidarität, die ich heute Abend machen durfte, nicht versickern zu lassen, wenn ich nach Hause

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